Hannover. Eine ganze Reihe neuer Elektroautos wollen deutsche Hersteller demnächst auf den Markt bringen. Die Zukunft fährt elektrisch, sollte man meinen. Was bedeutet dieser Wandel in der Autotechnik für die Zulieferer in der Kautschuk-Industrie? aktiv sprach mit Professor Ulrich Giese, dem Geschäftsführer des Deutschen Instituts für Kautschuktechnologie (DIK).

Herr Professor Giese, wenn man den Ankündigungen glaubt, fahren wir bald elektrisch. Stimmt das?

Elektromobilität ist derzeit ein Hype. E-Autos werden fester Bestandteil des Individualverkehrs sein. Aber eines möchte ich klar sagen: Das Greenwashing der Lithium-Ionen-Technologie halte ich für falsch. Kritisch ist zum Beispiel die hohe Umweltbelastung beim Gewinnen wichtiger Rohstoffe für Akkus.

Wegen der strengen Grenzwerte für den Klimagasausstoß der Pkws werden die Autohersteller auf E-Autos setzen müssen. Was bedeutet das für die Kautschuk-Industrie?

Chance und Risiko zugleich. Gummiprodukte beeinflussen Gewicht, Rollwiderstand, Reichweite, Dämpfung und Akustik eines Autos. Da bieten sich Chancen für die Branche. Aber manche Bauteile aus Elastomeren für den konventionellen Antrieb werden im E-Auto nicht mehr benötigt.

Welche Bauteile fallen beim Stromauto weg?

Bauteile wie Kühlmittelschläuche, Turboladerschläuche, An-triebsriemen sowie Dichtungen in Motor und Abgassystem entfallen. Dämpfer müssen für die E-Mobilität angepasst werden. Bei Karosserieabdichtungen gibt es keine grundlegenden Änderungen. Für die Gummi-Industrie wird es also durchaus Verluste geben, vor allem bei hochwertigen Spezialelastomeren.

Reifen an E-Autos verschleißen um 30 Prozent schneller

Und wo bieten sich neue Chancen?

Bauteile wie etwa Separatoren, die im Akku die Elektroden voneinander trennen, Spezialdichtungen sowie polymere Matrices für protonenleitende Membranen in Brennstoffzellen sind zum Teil neu zu entwickeln. Elastomerdämpfer müssen auf ein geändertes Schwingungsverhalten angepasst werden. Es geht also um Mehr-Komponenten-Verbindungen und neue Werkstoffe. Hinzu kommen ganz neue Bauteile aus Kautschuk, Silikon und thermoplastischen Elastomeren, beispielsweise für die Batterie- und Kühltechnik.

Welche Anforderungen stellt die E-Mobilität an die Reifen?

Die Reifen-Industrie ist stärker denn je gefragt, Kautschukmischungen für Reifen mit möglichst geringem Rollwiderstand zu entwickeln. Herkömmliche Reifen können wegen des direkten Drehmoments von Elektromotoren und des zusätzlichen Gewichts durch die Akkus um bis zu 30 Prozent schneller verschleißen. Das haben Tests zum Beispiel von Goodyear gezeigt. Es wird also in Zukunft ein immer größerer Wert auf wenig Rollwiderstand gelegt. Dazu muss man Reifenkonstruktion und Materialeigenschaften optimieren. Und außerdem ändert sich der Durchmesser der Reifen, denn große Reifen rollen schließlich leichter als kleine Pneus.

Wie bereitet sich ihr Institut auf diese Entwicklungen vor?

Die Forschung wird neue Zielrichtungen haben. Die veränderte Nachfrage aus den Unternehmen spüren wir bereits, darauf müssen wir uns einstellen. Wir müssen uns zum Beispiel stärker auf thermoplastische Elastomere und Vulkanisate, ausgewählte Kunststoffe, Gummi-Kunststoff-Verbundsysteme spezialisieren. Und klar: Wir müssen unsere Laborausstattungen anpassen.

Wie kann sich ein Mittelständler auf die Herausforderungen einstellen?

Die Betriebe werden gezwungen sein, ihr Portfolio anzupassen und weiterzuentwickeln, um die Abhängigkeit vom Auto zu verringern. Da sehen wir uns als Partner der Unternehmen. Wir schauen gemeinsam auf die Anforderungen, um neue Märkte zu erschließen. Zum Beispiel in der Baubranche, bei anspruchsvollen Haushaltsgeräten, Medizinprodukten, Lebensmittelbedarf sowie Hightech-Anwendungen etwa in Sensorik und Softrobotik. Für die Kautschuk-Industrie wird es immer einen Markt geben. 

Zur Person

Packt die Herausforderungen an: Professor Ulrich Giese will die Forschung des Instituts für Kautschuktechnologie auf den sich wandelnden Markt einstellen.
Professor Ulrich Giese Bild: Gossmann
  • Vorsitzender des Vorstands und Leiter des Deutschen Instituts für Kautschuktechnologie in Hannover.
  • Seit 2005 Lehrbeauftragter der Universität Hannover im Masterstudiengang Chemie; hält die Vorlesung „Polymeranalytik“.
  • Studium: Chemie und Lehramt Chemie, Sport und Pädagogik an der Universität Paderborn. Promotion an der Universität Paderborn.