Nils Pfullmanns Projekte beginnen in der Regel mit einem weißen Blatt. Genauer gesagt: einem leeren Whiteboard. Der 42-Jährige ist Systementwickler bei der Division Commercial Vehicle Solutions, einem Unternehmensteil des Autozulieferers ZF Group.

In Hannover sitzt nicht nur ein Produktionsstandort des Konzerns. Hier findet auch ein Teil der Produktentwicklung statt: Von den fast 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern arbeitet rund ein Drittel in der Entwicklung. Sie forschen an Bremsregelsystemen und anderen Technologien, die Nutzfahrzeuge besser und sicherer machen.

Pfullmann entwickelt als Teamleiter mit einem 23-köpfigen Team Bremssysteme für Lkw-Anhänger und trägt damit viel Verantwortung. Denn: „Wenn ein Lkw-Gespann mit 40 Tonnen bergab auf eine rote Ampel zurollt, muss bei Rot nicht nur die Zugmaschine stehen, sondern auch der Anhänger – und das bei jedem Wetter“, erklärt der promovierte Physiker. Versagen die Bremsen des Trailers, kann es ansonsten schnell bedrohlich werden.

ZF ist Marktführer bei den elektronischen Bremssystemen

Bei ZF gelten für Bremssysteme hohe Qualitätsstandards – Anhänger sind da keine Ausnahme. Trailer-Bremsen müssen laut Vorgabe mindestens zehn Jahre halten und eine Million Kilometer überstehen. Dabei sollen sie natürlich bezahlbar bleiben. Eine Herausforderung für Pfullmann und sein Team – aber keine, die sie scheuen.

Der Konzern hat ein waches Auge auf aktuelle Markttrends und mögliche zukünftige Entwicklungen. „Es gibt mehr als 1.000 Hersteller für Anhänger“, sagt Pfullmann. „Wir haben also den Anspruch, für eine möglichst breite Basis an potenziellen Kunden die bestmögliche Lösung anzubieten.“ Das funktioniert nur, indem man nicht nur Systeme optimiert, sondern ausbaut, weiterdenkt, Innovationen wagt. Und die Technologie bereits am Whiteboard flexibel auslegt.

Dass ZF mit dieser Methode etwas richtig macht, erkennt man an den Absatzzahlen: Bei elektronischen Bremssystemen für Anhänger hat das Unternehmen einen Marktanteil von 70 Prozent.

„Die Bremse muss funktionieren – und zwar bei jedem Wetter.“

Nils Pfullmann, ZF

Aber was passiert eigentlich auf dem Weg vom Whiteboard bis zum serienreifen Produkt? „Zu Beginn wollen wir die Anforderungen genauestens verstehen. Dann machen wir uns eine Menge Gedanken und reden mit Beteiligten aus der Industrie“, erklärt der Systementwickler. Dabei klären die Experten Fragen wie: Welches Problem genau will der Kunde gelöst haben? Und welche technischen Optionen haben wir? Sind die Vorüberlegungen geklärt, legen die Entwicklerteams los. Jedes befasst sich mit einzelnen Details. Von ihren Designs produzieren die Entwickler anschließend dreidimensionale Zeichnungen und Musterteile. Die werden gebraucht für den nächsten Schritt: die Praxistests.

Wie reagieren die Bremsen bei extremen Temperaturen?

Auf dem Prüfstand bauen die Entwickler dafür die Elektronik eines Anhängers um das Gerät herum und simulieren verschiedene Fahr- und Bremsmanöver. Macht das Gerät in jeder Situation, was es soll? Wie reagiert es im Klimaschrank auf extreme Temperaturen oder Nässe? „Wir gehen gezielt an die Grenzen“, sagt Pfullmann.

Bremsen sind nur ein Teil der Dinge, die in Hannover entwickelt werden. Aktuell beschäftigt sich das Team mit der Elektrifizierung von Lkw-Anhängern, um den CO2-Ausstoß im Schwerlastverkehr zu verringern. Dafür müssen neue Komponenten wie Hochvoltbatterien, elektrifizierte Achsen und vieles mehr in den Trailer integriert werden. „Fast wie ein Elektroauto, nur ohne Lenkung“, sagt Pfullmann. Das sei ein riesiger Schritt, da Anhänger bisher kein eigenes Antriebssystem haben. „Vieles müssen wir uns neu erschließen und erarbeiten.“ Dabei helfe das bisherige Know-how aus der Bremssystementwicklung.

Dass er einmal Bremselektronik entwickeln würde, hätte sich Pfullmann während seines Studiums der Laserphysik nicht träumen lassen. Nach der Promotion zieht es ihn als Trainee zu VW. In Wolfsburg wirkt er mit an der Entwicklung von hochauflösenden Scheinwerfern und Rückleuchten. „Dabei habe ich gemerkt, wie viel Spaß die Systementwicklung macht“, erinnert er sich. Doch Scheinwerfer testet man nun mal am besten bei Dunkelheit, also während Nachtfahrten. Aber Pfullmann wurde Vater und wollte mehr für seine junge Familie da sein. 2020 trennten sich die Wege mit VW freundlich. Sein neuer Pfad führte ihn zu ZF.

Beharrlichkeit und ganzheitliches Denken gehören zu den wichtigsten Tugenden, die man als Systementwickler mitbringen sollte, sagt Pfullmann. „Auch bei steigenden Anforderungen wollen wir die Entwicklungszyklen kurz halten. Da hilft es, die Technik nicht nur in ihren Details zu begreifen – sondern auch, wie sie sich in das Komplettsystem einfügt.“ Von seinen Mitarbeitern erwartet er, dass sie auch mal selbst die Ärmel hochkrempeln: „Wenn man direkt am Fahrzeug arbeitet, bekommt man sofort ein Gefühl, wie gut das Gerät funktioniert – und wo noch Verbesserungspotenzial ist.“ So etwas erkenne man meist nicht am Whiteboard. Sondern erst in der Praxis.

Zum Unternehmen

  • Die ZF-Division Commercial Vehicle Solutions entwickelt in Hannover technologische Lösungen für den Nutzfahrzeug-Sektor.
  • Dazu zählen neben elektronischen Bremssystemen auch Lösungen im Bereich autonomes Fahren, Elektromobilität oder zum digitalen Flottenmanagement.
  • Am Standort Hannover arbeiten momentan fast 3.000 Beschäftigte – ein Drittel von ihnen sind Entwicklerinnen und Entwickler.