Berlin/Stuttgart/Köln. Nicht selten bringen es historische Änderungen mit sich, dass ihre Tragweite anfangs gar nicht klar ist. Das gilt auch für den tarifpolitischen Meilenstein, der flexibles Arbeiten in der deutschen Metall- und Elektroindustrie (M+E) überhaupt erst möglich machte – im Tausch gegen kürzere Arbeitszeiten. Dieser Zusammenhang ist bis heute maßgeblich.
Juni 1984: Seit vielen Wochen haben Metaller für die 35-Stunden-Woche gestreikt. Mit der Schlichtung dieses heftigen Arbeitskampfs, dem „Leber-Kompromiss“, sind viele zunächst nicht zufrieden. Selbst in der Tarifkommission der IG Metall stimmt jeder Vierte dagegen. Aber das Ergebnis, durchgefochten vom früheren Chef der Baugewerkschaft und Ex-Bundesminister Georg Leber (1920–2012), hat Bestand.
Beweglichkeit für die Betriebe
Sonst, so Leber damals selbst, wäre „nur noch der Abgrund“ gekommen. Ein halbes Jahr hat der erbitterte Tarifkonflikt insgesamt schon gedauert, Streiks und Aussperrungen haben die Betriebe, die Gewerkschaft und den Staat Milliarden D-Mark gekostet. Dabei ist allen klar, dass es einen Einstieg in die von der Gewerkschaft so vehement geforderte 35-Stunden-Woche nicht einfach so geben kann.
Was Leber dafür von der IG Metall verlangt und schließlich bekommt, ist „Beweglichkeit“. Erstmals darf nun ein M+E-Unternehmen das gesamte Arbeitszeitvolumen flexibel nach den betrieblichen Notwendigkeiten verteilen.
Zentrale Ergebnisse dieser historischen Schlichtung:
- Die tarifliche Wochenarbeitszeit, die bei M+E seit 1967 bei 40 Stunden liegt, sinkt am 1. April 1985 auf 38,5 Stunden. Das gilt aber nur kollektiv, also im Betriebsdurchschnitt.
- Die individuelle Arbeitszeit der Mitarbeiter kann in einer Spanne von 37 bis 40 Stunden pro Woche unterschiedlich verteilt werden.
- „Mehrarbeit“ bis zu 10 Stunden pro Woche oder 20 Stunden im Monat ist zulässig (dieses Volumen kann per Betriebsvereinbarung noch erhöht werden).
- Die Laufzeiten der Maschinen müssen sich nicht nach den Arbeitszeiten der jeweiligen Bedienungsmannschaften richten – das vermeidet teuren Stillstand. Wer in einer Schicht „zu lange“ an der Maschine war, der erhält einen Freizeitausgleich.
- Die wöchentliche oder monatliche Arbeitszeit kann unterschiedlich verteilt werden, um erwartbare Schwankungen der Auftragslage auszugleichen.
- Um die Details kümmern sich die Firmen jeweils selbst: Unternehmensleitungen und Betriebsräte können die neuen Spielräume per Betriebsvereinbarung ausnutzen.
Die Schlichtung sei ein „noch tragbarer Kompromiss“, urteilt das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) im Juli 1984, kurz nach dem entscheidenden Handschlag der Tarifpartner in Stuttgart. Und sagt voraus: „Werden die Flexibilisierungsspielräume ausgeschöpft, können die Schäden der kollektiven Arbeitszeitverkürzung aufgefangen werden – insbesondere die Auswirkungen auf das Angebot an qualifizierten Kräften und den Arbeitsablauf.“
Kurz vor dem Stichtag im April 1985 zeigt eine Umfrage des Arbeitgeberverbands: Für zwei Drittel der M+E-Beschäftigten sind flexible Arbeitszeiten im Prinzip eingeführt.
Die Kernaussage gilt bis heute
In späteren Tarifrunden wird die Arbeitszeit weiter reduziert, seit 1995 gilt die 35-Stunden-Woche. Die betriebliche Flexibilität wiederum wird dadurch vergrößert, dass für 13 Prozent der tariflichen Mitarbeiter höhere Arbeitszeiten vereinbart werden können („40-Stunden-Quote“).
Die Details des historischen Leber-Kompromisses sind inzwischen also weitgehend überholt. Die Kernaussage aber ist geblieben: Mehr Beweglichkeit für die Betriebe und kürzere Arbeitszeit für die Mitarbeiter sind seit dem Jahr 1984 eng verbunden.
Wer Flexibilität einschränken will, stellt die „Geschäftsgrundlage“ der 35-Stunden-Woche infrage.
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