Sneaker für 10 Euro, drei T-Shirts für 14 Euro oder gleich 420 LED-Leuchten für 2,79 Euro – ernsthaft? Auf der Online-Plattform Temu sind solche Super-Schnäppchen normal. Das chinesische Unternehmen gehört wie der ebenfalls chinesische Billig-Modehändler Shein zu den am schnellsten wachsenden Online-Shops der Welt. Bei einer Befragung des Handelsforschungsinstituts IFH gaben zuletzt 91 Prozent der Deutschen an, die Portale zu kennen. 43 Prozent haben dieses Jahr schon dort eingekauft – 11 Prozentpunkte mehr als 2023.
Nicht nur im Online-Handel, auch bei Elektroautos, Maschinen und in anderen Branchen sind Chinas Firmen auf dem Vormarsch. Die ehemalige „Werkbank der Welt“ ist heute in vielen Bereichen selbst der Innovationstreiber. Und Europa sieht sich mit einer Flut günstiger China-Produkte konfrontiert. Dabei steht die größte Welle erst noch bevor.
Die USA schützen sich mit hohen Zöllen gegen Chinas E-Auto-Exporte
Einen Vorgeschmack gab es im Februar: Da legte die „BYD Explorer No. 1“ in Bremerhaven an. Der Frachter ist der erste einer Flotte von zukünftig acht Schiffen, die der chinesische Autobauer BYD eigens für den Transport seiner Fahrzeuge nach Europa chartern will. 3.000 BYD-Autos rollten aus dem Bauch der „Explorer“ an Land. Was wird aus unserer Industrie, wenn China bald jeden Monat mehrere solcher Schiffe schickt?
Das große Problem für Europa ist dabei den Ökonomen zufolge nicht der Wettbewerb an sich. Sondern die Mittel, mit denen sich China offenbar Vorteile verschafft.
„Wir wissen durch viele Studien, dass der chinesische Staat seine Auto-Industrie auf verschiedene Arten subventioniert“, sagt Jürgen Matthes, Experte für internationale Wirtschaftspolitik am Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Die Förderung reiche vom Zugang zu billigen Staatskrediten oder Firmengrundstücken bis hin zu Steuervorteilen. Die Folge ist, dass Chinas Hersteller deutlich günstiger produzieren können als europäische. „Das ist kein faires Spiel“, sagt Matthes.
So sieht das auch die US-Regierung. Im Mai verkündete Präsident Joe Biden deshalb eine drastische Erhöhung der Zölle auf chinesische E-Autos: Statt 25 müssen Importeure nun 100 Prozent Aufschlag zahlen. „China flutet die globalen Märkte mit künstlich verbilligten Exporten“, begründete das Weiße Haus den Schritt. Mit den Strafzöllen wolle man heimische Unternehmen vor „unfairen Handelspraktiken“ schützen. Auch für europäische Hersteller sind die US-Zölle gefährlich: Weil Exporte in die USA für China nun unrentabel werden, könnten bald deutlich mehr chinesische Frachter Bremerhaven statt Boston ansteuern.
Auch Brüssel hat deshalb Mitte Juni seine Importzölle für bestimmte Elektroautos aus China deutlich erhöht: Kostete die Einfuhr von E-Autos aus China bislang 10 Prozent Zollsteuer, sind seit dem 5. Juli je nach Hersteller darauf 17,4 bis 37,6 Prozentpunkte zusätzlich zum bereits geltenden Einfuhrzoll fällig. Theoretisch zumindest: Die Ausgleichszölle gelten für maximal vier Monate, offiziell eingeführt werden sie aber erst im November, bis dahin läuft eine Übergangsfrist, in der die Unternehmen die Zölle noch nicht zahlen, aber garantieren müssen.
Diese Zölle werden erhoben, sofern keine andere Lösung mit China gefunden wird. Vor dem Schritt hatten Deutschlands Autohersteller zuvor vehement gewarnt. Zum einen, weil sie selbst in China produzieren und von Importzöllen betroffen sind. Zum anderen, weil sie Gegenmaßnahmen Chinas befürchten, etwa bei der Verfügbarkeit von Batterie-Rohstoffen.
Welche Auswirkungen höhere Zölle haben können, hatte schon im Mai das Institut für Weltwirtschaft in Kiel berechnet: Demnach dürfte schon ein Einfuhrzoll von 20 statt 10 Prozent dazu führen, dass die Zahl der importierten E-Autos aus China um ein Viertel sinkt – was dann auch spürbar höhere Preise für hiesige Endverbraucher bedeutet.
Online-Verkäufer stückeln ihre Ware, um die Zollfreigrenze zu unterlaufen
Juristisch könnten die Strafzölle der EU durchaus gerechtfertigt sein, erklärt IW-Experte Matthes: „Die Welthandelsorganisation WTO hat klare Regeln dafür definiert, wann Zölle legitim sind.“ Demnach können Staaten versuchen, auch über Firmenauskünfte das Ausmaß der wettbewerbsverzerrenden staatliche Subventionierung zu eruieren. Wenn sich hinreichende Belege für ein unfaire Handelspolitik finden, dann sind Schutzzölle „kein Protektionismus, sondern eine legitime Reaktion“, so Matthes.
Im Fall der Online-Plattform Temu warnen vor allem Verbraucherschützer vor den Billigwaren aus Fernost. Testkäufe etwa vom Verband der Deutschen Spielzeugindustrie oder des WDR zeigten, dass über den Marktplatz versandte Ware oft nicht dem europäischen Verbraucherschutz entspricht. So fehlte bei nicht wenigen Produkten die verpflichtende CE-Prüfung, die sicherstellt, das etwa eine günstige Lichterkette nicht zum Brandherd wird. „Chinesische Billiganbieter wie Temu und Shein fluten allein den deutschen Markt mit täglich 400.000 umweltschädlichen und teils gesundheitsgefährdenden Produkten“, moniert etwa Alexander Bartz, Handelsexperte der SPD-Bundestagsfraktion.
Hinzu kommt ein weiteres Problem: Die Billiganbieter versenden ihre Produkte oft einzeln, um Exportzölle zu sparen. Denn die fallen bisher erst für Sendungen ab einem Wert von 150 Euro an. Oberhalb dieser Grenze ist Zoll fällig: bei Fahrrädern zum Beispiel 14 Prozent – plus 48,5 Prozent Anti-Dumping-Zoll, wenn sie aus China stammen. Wird ein Fahrrad aber zerlegt und stückweise verschickt, fällt diese Zahlung weg. „Dieser mutmaßliche Steuerbetrug führt in Europa zu Schäden in Milliardenhöhe“, kritisiert Bartz. Temu weist die Vorwürfe zurück: Die Aufteilung von Paketen erfolge „aus logistischen Gründen“. Die Bundesregierung will jedenfalls in Brüssel auf eine Abschaffung des Freibetrags dringen.
Ob das reichen würde, um der Paketflut Herr zu werden? Experten bezweifeln das. So fürchtet nicht nur der Handelsverband Deutschland (HDE), dass der Zoll mit den geschätzt zwei Milliarden Paketen, die schon jetzt jedes Jahr aus China ankommen, überfordert ist. Was es brauche, seien Fortschritte in Sachen Digitalisierung, etwa eine Zoll-Plattform, auf der jede Sendung angemeldet werden muss. HDE-Experte Stephan Tromp mahnt: „Die Politik ist gefordert, sicherzustellen, dass dieses offene Scheunentor für nicht verkehrsfähige Produkte aus Fernost so schnell wie möglich geschlossen wird.“
Michael Aust berichtet bei aktiv als Reporter aus Betrieben und schreibt über Wirtschafts- und Verbraucherthemen. Nach seinem Germanistikstudium absolvierte er die Deutsche Journalistenschule, bevor er als Redakteur für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ und Mitarbeiter-Magazine diverser Unternehmen arbeitete. Privat spielt er Piano in einer Jazz-Band.
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