Stuttgart. Schulen hinken bei der Digitalisierung hinterher. Was muss passieren? aktiv fragte Wolfgang Hackenberg. Er ist Landessprecher des Digitalverbands Bitkom und Sprecher der Geschäftsführung beim Unternehmen Nokia Solutions and Networks.
Die Corona-Krise hat Defizite der Schulen in Baden-Württemberg in Sachen Digitalisierung offenbart. Wie groß ist das Problem?
Die Corona-Krise hat insbesondere zwei Dinge verdeutlicht. Zum einen, dass Schülern und Lehrkräften keine ausreichende IT-Infrastruktur zur Verfügung steht, um digital gestützten Unterricht durchzuführen. Zum anderen, dass es bei allen Akteuren an digitalen Kompetenzen mangelt, um mit den neuen Technologien Unterricht kreativ und aktiv zu gestalten. Seit vergangenem Jahr stehen im Land Baden-Württemberg rund 650 Millionen Euro zur Verfügung, um über den Digitalpakt Hardware und IT-Infrastruktur an Schulen zu bringen. Davon wurde bisher lediglich ein Bruchteil abgerufen (Stand März 2020: 3,8 Millionen). Dass es allerdings dringend notwendig ist, dass jedem Schüler ein mobiles Endgeräte zur Verfügung steht, hat die Krise verdeutlicht. Dabei geht es nicht nur um die Ausstattung aller Schüler mit mobilen Endgeräten, um digitale Spaltung zu verhindern. Auch Lehrkräfte benötigen ein Arbeitsgerät, wie es in jeder anderen Branche üblich ist. Nur so können sie datenschutzkonform und qualitätsgesichert arbeiten. Allerdings hat die Krise auch gezeigt, dass der Einsatz von digitalen Technologien für den Fern- und Präsenzunterricht nur dann funktioniert, wenn Lehrkräfte und Schüler mündig mit den Geräten umgehen können. Dafür müssen Lehrkräften Zeitressourcen zur Verfügung gestellt werden, um sich verpflichtend im Umgang mit digitalen Medien weiterzubilden, und Schüler in einem eigenen Fach Informatik auf die Gestaltung einer digitalen Welt vorbereitet werden.
Hat die Pandemie die Digitalisierung der Schulen entscheidend vorangetrieben?
Die Pandemie hat dem Digitalisierungsproblem an Schulen in erster Linie Sichtbarkeit gegeben. In vielen Fällen kam es auch zu einem Digitalisierungsschub, da man gezwungen war, auch ohne große Pilotphasen digitale Technologien und Software zu verwenden. Trotzdem besteht weiterhin vor allem eine große Spaltung. Während manche Schulen in Baden-Württemberg ihre Stundenpläne von Tag eins an in den digitalen Klassenraum verlegt haben, bestand an anderen Schulen zu manchen Schülern über den gesamten Zeitraum der Schulschließungen gar kein Kontakt. Wenngleich nicht jede der in der Zeit der Krise gefundenen Notlösungen unmittelbar auf die Zeit danach übertragen werden kann, so können die gewonnenen Erfahrungen im Umgang mit Online-Lernplattformen und digitalen Tools genutzt und gewinnbringend für die Rahmenbedingungen eines Schulalltags in einer neuen Normalität adaptiert werden. Unterrichtsausfall aufgrund fehlender Lehrkräfte und Räume kann auch nach der Pandemie durch zeitweisen digitalen Fernunterricht abgemildert werden. Klassischer Unterricht und digitale Lern- und Arbeitsformen ergänzen und stärken sich so gegenseitig. Um den Rückstand aufzuholen, der weiter besteht, müssen nun langfristige und nachhaltige Finanzierungsprogramme geschaffen werden, die Hardware, Software und IT-Administration, aber auch Lehrkräfteweiterbildung abdecken. Diese Mittel müssen für Schulen vor allem leicht zugänglich sein. Denn dass bisher ein so geringer Anteil an Digitalpaktmitteln abgerufen wurde, liegt unter anderem an den komplizierten bürokratischen Beantragungsverfahren.
Warum ist es überhaupt so wichtig, dass in Schulen digital gearbeitet wird?
Der Einsatz digitaler Medien und Plattformen leistet einen wichtigen Beitrag dazu, die neue Schülergeneration auf die Herausforderungen der heute zunehmend digitalen Arbeitswelt und des lebenslangen Lernens rechtzeitig vorzubereiten. Durch den Umgang und die Auseinandersetzung mit digitalen Technologien erlernen Schüler wichtige Kompetenzen für ihr späteres Leben. Hierbei geht es nicht nur um den Kompetenzerwerb für eine digitale Arbeitswelt, sondern für eine digitale Gesellschaft im Allgemeinen. Jeder Mensch ist in seinem Alltag mit digitalen Phänomenen konfrontiert. Um damit reflektiert und mündig umgehen zu können, ist es ein Bildungsauftrag der Schulen, diese Kompetenzen zu vermitteln. Darüber hinaus kann durch den Einsatz kollaborativer Tools die Team- und Kommunikationsfähigkeit gestärkt werden.
Können die Schulen in Sachen Digitalisierung von der Wirtschaft etwas lernen, zum Beispiel von der baden-württembergischen Industrie?
Neben den Schulen sollte sich insbesondere die Politik etwas vom Wirtschaftssektor abschauen. In der Corona-Krise wurde deutlich, dass Unternehmen relativ unkompliziert und direkt Fördermaßnahmen beantragen konnten. Für Schulen stellte sich das Prozedere durch die föderalen Strukturen und zerstückelten Kompetenzen weitaus komplizierter dar. Die Sofortmaßnahmen, die für den Erwerb von Endgeräten an Schulen eingesetzt werden sollen, sind zum großen Teil immer noch nicht bei den Schulen angekommen, da sie viele Verwaltungsstrukturen durchlaufen müssen. Außerdem sollte man bei Digitalisierungsprozessen den Mut haben, Dinge auszuprobieren und in der Praxis anzuwenden. Vielleicht braucht es nicht immer das präzise ausgearbeitete theoretische Gesamtkonzept, sondern bestimmte Teile können auch schon früher praktisch realisiert werden.
Welche digitalen Werkzeuge brauchen die Schulen jetzt besonders?
Da wir in einer vernetzten Welt leben, kann hier nicht eindeutig differenziert werden, was zuerst benötigt wird und was als zweites. Damit mobile Endgeräte überhaupt klassenübergreifend genutzt werden können, benötigen alle Schulen in Baden-Württemberg einen leistungsstarken Internetanschluss und eine flächendeckende Ausleuchtung mit WLAN. Dies ist bei Weitem noch nicht überall gegeben. Für das Homeschooling sollten diese Komponenten übrigens auch am häuslichen Arbeitsplatz der Schüler gegeben sein. Damit diese Netzwerkinfrastruktur genutzt werden kann, benötigen Schüler und Lehrkräfte mobile Endgeräte. Hier kommt es vor allem auf die Altersstufe an, welche Endgeräte passend sind. Während in der Grundschule vielleicht ein Tablet besser zu handhaben ist, benötigen ältere Schüler für die Produktion von Texten manchmal eher ein Gerät mit Tastatur. Allerdings bringen weder die Netzwerkinfrastruktur noch die Hardwareausstattung einen Mehrwert für das Lernen, wenn nicht die richtige Software auf den Geräten ist. Hier müssen das pädagogische Konzept der Schulen und die IT-Infrastruktur eng miteinander verknüpft werden. Denn Digitalisierung soll schließlich einen Mehrwert und neue pädagogische Möglichkeiten für den Unterricht mit sich bringen.
Können die Schulen von der Wirtschaft etwas lernen?
Neben den Schulen sollte sich insbesondere die Politik etwas vom Wirtschaftssektor abschauen. In der Corona-Krise wurde deutlich, dass Betriebe relativ unkompliziert und direkt Fördermaßnahmen beantragen konnten. Für Schulen stellte sich das Prozedere durch die föderalen Strukturen und zerstückelten Kompetenzen weitaus komplizierter dar. Schulen sollten aber auch mehr Mut haben, Dinge auszuprobieren und anzuwenden: Vielleicht braucht es nicht immer vorher ein präzise ausgearbeitetes theoretisches Gesamtkonzept.
Der Digitalverband Bitkom empfiehlt einen Sieben-Punkte-Plan:
- Lehren und Lernen ergänzen durch digitale Unterstützung im Schulalltag und dies zukunftsbezogen aktiv gestalten, so, dass alle Schüler und Lehrer mündig mit digitalen Anwendungen umgehen können und die Schulen mit moderner Technik wie Whiteboards, Beamer etc. ausgestattet sind.
- Digitale Bildungsmittel für alle Schüler bereitstellen und damit digitale Spaltung überwinden, so, dass alle Schüler unabhängig von ihrer finanziellen Situation ein altersgerechtes Endgerät und einen Internetzgang zur schulischen Nutzung zur Verfügung haben.
- Arbeitsmittel für Lehrkräfte bereitstellen und Engagement für digitalen Unterricht fördern, so, dass jede Lehrkraft über einen dienstlichen PC, die notwendige Software, Mobiltelefon und -nummer und E-Mail-Adresse verfügt.
- Verpflichtenden Informatikunterricht ausweiten und die praktische Nutzung von digitalen Werkzeugen in allen Fächern verbessern, so, dass alle Schüler grundlegend verstehen, wie IT-Systeme funktionieren, und in allen Fächern mit Laptops, Whiteboards und mithilfe von Lernplattformen gearbeitet wird.
- Informatik- und Medienkompetenz durch verpflichtende Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften stärken, so, dass jede Lehrkraft in der Lage und motiviert ist, digitale Medien pädagogisch sinnvoll in den Unterricht zu integrieren und hierfür entsprechende verpflichtende Schulungen erhält.
- IT-Fachpersonal für die Schulen bereitstellen, dauerhaft und flächendeckend in Form von IT-Administratoren, Medienpädagogen und zentralen Diensten, so, dass jede Schule Zugriff auf Fachpersonal zur IT-Verwaltung hat und dies nicht mehr durch Lehrer geleistet werden muss.
- Sichere digitale Lernumgebungen etablieren und Formen der digitalen Kommunikation und Kooperation intensiver nutzen, so, dass Schüler und Lehrer an allen Schulen interaktiv und mit Online-Lernplattformen arbeiten, wobei die Sicherheit durch geeignete Architektur und Software gewährleistet wird und der Datenschutz durch Architektur und angepasste Gesetzgebung gewahrt bleibt.