Aachen. Langsam setzt sich der Kettbaum in Bewegung. Das weiße Polyestergarn schnurrt durch die Vorwerk-Anlage. Marco Saggiomos Augen folgen den Zahlenkolonnen auf einem Monitor direkt über der Maschine. Er hängt im Digital Capability Center (DCC) in Aachen. Seit Ende März hilft diese Einrichtung des Instituts für Textiltechnik an der Technischen Hochschule Aachen, die digitalen Fähigkeiten von Mitarbeitern in der Textil-Industrie zu verbessern.
Winzige Sensoren in der Anlage melden die Daten an ein Steuer- und Überwachungssystem: Temperatur, Fadenspannung, Geschwindigkeit, Wartungsdringlichkeit. „Die Maschine sagt uns, wie es ihr geht“, sagt der technische Leiter des DCC.
Sie sagt es? Saggiomo lacht: „Für einen erfahrenen Weber hört sich das natürlich komisch an. Aber genau das wollen wir. Intelligente Maschinen, die mit ihren menschlichen Partnern und anderen Maschinen in der textilen Produktionskette kommunizieren.“
Saggiomos Auftrag dabei: Die Textilbranche technisch für Industrie 4.0 fit machen und dabei die Menschen mitnehmen – vom Manager bis zum Weber in der Produktion.
„Als ich zum ersten Mal eine Webmaschine hörte, wusste ich: Damit willst du arbeiten“
Seit der 28-Jährige das erste Mal am Institut für Textiltechnik in Aachen die Geräusche einer Webmaschine gehört hat, ist er von ihnen fasziniert. „Da wusste ich: Damit willst du arbeiten.“
Im DCC hat der Maschinenbau-Ingenieur zusammen mit seinem zehnköpfigen Team eine textile Musterproduktion im Miniformat aufgebaut. Dort tüftelt er an smarten Werkzeugen und Anlagen: vernetzte, sich selbst verbessernde Webstühle, Monitore, Tablets, Datenbrillen oder Smartwatches.
„Die Technik funktioniert. Aber bei den Menschen, die damit arbeiten sollen, müssen wir noch viel Überzeugungsarbeit leisten.“ Das verlangt ihm Fantasie und Einfühlungsvermögen ab.
Wenn erfahrene Weber ihm etwa sagen, dass sie ihre Arbeit vor 20 Jahren auch ohne Tablet geschafft haben, fragt er sie schon mal, ob sie heute auf ihr Smartphone verzichten wollten. Sie schafften es ja auch, mit dem alten Tastenhandy zu telefonieren. „Das will natürlich keiner.“
Am besten überzeugt er vor Ort in den Betrieben. Dort testen die Aachener derzeit eine Datenbrille, die Alarm schlägt, wenn der Träger Garnrollen aus unterschiedlichen Chargen aufsteckt. Oder sie meldet entnommene Rollen automatisch ans Lagerbestandssystem. Eine Smartwatch hingegen gibt unerfahrenen Maschinenführern übers Display Anweisungen, wie ein Fadenbruch zu beheben ist, oder vibriert, wenn demnächst eine Garnrolle leerläuft.
In Zukunft ist mehr Elektronikwissen gefragt
„So retten wir das Erfahrungswissen der älteren Mitarbeiter und stellen es den Jüngeren zur Verfügung. Wir machen die Branche attraktiver für Nachwuchskräfte.“ Gerade sie werden in den Textilbetrieben gebraucht, wo jeder zweite Mitarbeiter schon über 50 Jahre ist.
Die Angst vieler, dass die neuen Techniken ihre Jobs überflüssig machen, teilt Saggiomo nicht. „Sie werden helfen, den Textilstandort Deutschland zu sichern.“ Die Branche sei hoch spezialisiert und produziere in immer kleineren Losgrößen. „Gerade da können intelligente Maschinen effizienter produzieren.“
Natürlich werden sich die Berufsbilder ändern. Mehr elektronisches, weniger mechanisches Wissen sei in Zukunft gefragt. Saggiomo: „Die Menschen in den Betrieben, mit denen ich spreche, sind durchaus gewillt, sich diese Kenntnisse anzueignen. Unsere Assistenzsysteme können sie dabei unterstützen.“
Persönlich
Wie kamen Sie zu Ihrem Beruf?
Nach dem Maschinenbau-Studium in Aachen habe ich mich auf Textilmaschinen spezialisiert. Das DCC habe ich mit aufgebaut. Deshalb konnte ich im März die technische Leitung übernehmen.
Was reizt Sie am meisten?
Der Zusammenhang zwischen Maschinenbau und Automatisierung und dass ich immer mit der neuesten Technik arbeiten kann.
Worauf kommt es an?
Den Menschen vor Ort zu vermitteln, welche Vorteile sie durch die neuen Techniken haben.