Istanbul. „Krise???“ Alibey Arabaci bleibt abrupt stehen und macht ein Gesicht, als sei er gerade gefragt worden, ob er morgens eigentlich mit dem fliegenden Teppich zur Fabrik kommt. Dann zieht er die schnurrbartdicken Brauen hoch und brüllt gegen die Stanzmaschinen an: „Krise? Wir verarbeiten hier jährlich 6.000 Tonnen Blech! Arbeit ohne Ende!“
Arabaci ist Logistik-Leiter des Siemens-Werks in Gebze, am Ostrand Istanbuls. Krise, sagt er, gebe es vielleicht anderswo. „Aber nicht hier in der Türkei. Hier brummt’s!“
Das erlebt er täglich im eigenen Werk, das erst kürzlich für 100 Millionen Euro errichtet wurde: Die Belegschaft wächst, immer neue Maschinen werden angeschafft, und die Erzeugnisse, komplexe Spannungsverteiler, global verkauft.
„Obwohl: Manchmal staune ich ja auch, wie sich die Türkei gemausert hat“, schränkt Arabaci, mittlerweile besänftigt, beim Gang durch die Hallen ein. „Heute entwickeln und exportieren wir Hightech-Schaltschränke. Noch vor 30 Jahren gab’s in der Türkei nicht mal einen Fön zu kaufen.“
Video: Boom am Bosporus
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Seit einer Dekade jährlich 5 Prozent mehr Wirtschaftsleistung
Wir halten fest: Der Türke Alibey Arabaci staunt über sein Land. Kein Wunder, dass sich der Rest der Welt erst recht die Augen reibt. Am Bosporus ist Boom! Ausgerechnet das Schwellenland Türkei, ewiges Stiefkind Europas, oft als hoffnungslos rückständig stigmatisiert, zeigt den krisengeplagten europäischen Industrienationen zumindest wirtschaftlich, was eine Harke ist.
Seit über einer Dekade wächst die Wirtschaft der Türkei um durchschnittlich 5 Prozent pro Jahr – ein Traumwert. Und das Pro-Kopf-Einkommen hat sich nach Zahlen des Internationalen Währungsfonds im selben Zeitraum auf umgerechnet 10.500 US-Dollar fast verdreifacht. Das ist noch immer weit unterhalb des EU-Schnitts. Doch Ökonomen rechnen damit, dass 2030 die Marke von 70 Prozent erreicht wird. Nach ihrer Prognose ist die Türkei dann die viertgrößte Wirtschaftsnation Europas – vor Italien oder Spanien!

Ist es an der Zeit, das alte Türkei-Bild aufzupolieren? In einer schmucken osmanischen Holzvilla im Istanbuler Stadtteil Tarabya sitzt einer, der genau das für überfällig hält. „Die Türkei ist ein Boom-Land. Und sie wird es bleiben!“, sagt Marc Landau, Chef der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer.
Im Garten der Anlage blühen blutrote Margeriten, auf den trägen Fluten des Bosporus schippern Gas-Tanker, in den Straßencafés genießen Arbeiter und Anzugträger die ersten warmen Sonnenstrahlen. Doch was der Mann zu sagen hat, der für die deutsche Wirtschaft in der Türkei die Klinken putzt, passt so gar nicht zu dieser Betulichkeit: „Vor 20 Jahren noch bestand der türkische Export hauptsächlich aus Obst, Gemüse und billigen T-Shirts. Das ist längst Geschichte.“
Denn inzwischen, betont Landau, habe sich das Land breiter aufgestellt. „Die Elektro-Industrie, Maschinen- und Anlagenbau, Informations- und Kommunikationstechnik und der Fahrzeugbau machen jetzt die Musik.“
17 Hersteller und 4.000 Zulieferer fertigen jährlich 1,2 Millionen Autos, Busse und Nutzfahrzeuge – das ist mehr als in Italien
Vor allem die Autobauer haben die Türkei als Standort entdeckt. Nach Zahlen der internationalen Beratungsfirma KPMG liefen letztes Jahr in der Türkei 1,2 Millionen Autos, Busse und Nutzfahrzeuge vom Band – mehr als in Italien. 17 Hersteller und 4.000 Zulieferer produzieren mittlerweile hier, das bedeutet Arbeit für 300.000 Beschäftigte.
Auch deutsche Unternehmen sind am Bosporus an Bord. Und wie! Landau rasselt runter: „Vor zehn Jahren gab es in der Türkei gerade mal rund 1.000 Firmen mit deutscher Beteiligung. Nun sind es 5.000! Und fast täglich werden es mehr.“
Was die Investoren dabei besonders lockt, liegt für ihn auf der Hand: „Die Türkei ist ein attraktiver Standort für den Sprung in andere Länder – auch in den Nahen Osten oder nach Nordafrika.“ Außerdem dürfte es ein sehr deutsches Wort wohl auf lange Zeit nicht in den türkischen Sprachschatz schaffen: Fachkräftemangel. „Den gibt’s hier nicht“, sagt Landau entschieden. „Unternehmen können in der Türkei auf ein riesiges Potenzial an sehr gut ausgebildeten Mitarbeitern zurückgreifen.“
Die – hübscher Nebeneffekt – auch schön billig zu haben sind, oder? „Natürlich sind die Lohnkosten in der Türkei niedriger als in Deutschland“, bestätigt Landau. So koste eine Facharbeiterstunde, beispielsweise in der Auto-Industrie, nur rund 8 Euro inklusive Sozialabgaben. Doch das sei nicht das Entscheidende. „In Bulgarien wären es nur 3 Euro. Aber dafür ist dort auch die Produktivität deutlich geringer.“
Die Türkei ein reines Billiglohnland – bei solch verstaubten abendländischen Ammenmärchen hält es auch Hüseyin Gelis kaum auf dem Chefsessel. Gelis, ein drahtiger Mittfünfziger im tadellosen Zweireiher, ist Präsident von Siemens in der Türkei, Chef von 2 600 Mitarbeitern.
Sein Urteil, schneidig gefällt im Siemens-Hauptquartier im Istanbuler Stadtteil Kartal: „Die Türkei ist kein Low-Cost-Country mehr. Das, womit wir uns von der Konkurrenz abheben, ist Produktivität und Qualität, und zwar mit innovativen Produkten.“
Größter Trumpf der in der Türkei agierenden Firmen, so Gelis, sei dabei die hohe Identifikation der Mitarbeiter mit ihren Betrieben. „Die Leute hier sind unglaublich stolz, für ihre Firma zu arbeiten. Sie wollen sich einbringen, einen Beitrag leisten, der manchmal auch über das Normalmaß hinausgeht.“
Man könnte das jetzt als Topmanager-Klappentext abtun. Wenn da nicht dieser Nachsatz wäre. In den 70er-Jahren habe er in Deutschland gearbeitet, erzählt Gelis. „Damals waren die Leute dort auch mit Stolz bei ihrer Arbeit. Und genau diese Motivation spürt man jetzt hier.“
Ist das so einfach? Man nehme tüchtig Motivation, eine Prise Lohnkostenvorteil, rühre gute Ausbildung unter, fertig ist der Boom?
Wohl kaum. Denn klar ist auch: Vor gerade einmal zwölf Jahren galt die Türkei noch als „kranker Mann vom Bosporus“. Die Wirtschaft lag am Boden, vor der Staatspleite bewahrte nur der Internationale Währungsfonds. Wo sich heute auf der prächtigen Istanbuler Fußgängerzone „Istiklâl Caddesi“ Massen konsumfreudiger Türken drängen, herrschte seinerzeit gespenstische Leere – kein Wunder bei damals 60 Prozent Inflation.
Was folgte, waren beherzte Reformen. Das Bankensystem wurde runderneuert, der Staatshaushalt durch Ausgabenkürzungen saniert, Staatsunternehmen privatisiert. Das waren die Bausteine für die türkische Wachstumsstory.
Seit 50 Jahren im Wartezimmer der EU
Den „kranken Mann vom Bosporus“ mögen die Kunstgriffe kuriert haben. Aus dem Wartezimmer der EU, in dem die Türkei seit gut 50 Jahren sitzt und auf Aufnahme hofft, haben sie das Land bislang nicht herausholen können.
Allzu schnell dürfte sich das wohl auch nicht ändern. Wobei nicht wenige schon heute fragen, wer da wen mehr braucht: die Türkei die EU oder eher andersherum.
Siemens-Boss Gelis sieht das so: „Die Türkei hat doch schon jetzt von der EU profitiert.“ Das Land habe sich verändert, Standards angeglichen. „Aber wir sind eine emotionale Nation“, sagt er dann, mit Blick auf die stockenden Beitrittsverhandlungen. „Und das drücken wir auch aus.“
Bildergalerie Istanbul : Eine Metropole auf zwei Kontinenten
Fakten: Nicht nur am Bosporus boomt es
- Lange beschränkte sich der Aufschwung auf die Zentren Istanbul, Izmir und Ankara. Mittlerweile aber trägt der Boom auch anderswo Früchte. So haben sich frühere Provinzstädte wie Kayseri, Konya oder Adana ebenfalls als Industriezentren etabliert.
- Die türkische Bevölkerung ist mit einem Durchschnittsalter von gerade 28 Jahren (Deutschland 44 Jahre) nicht nur sehr jung. Sie wächst auch. Derzeit zählt man 75 Millionen Türken. Im Jahr 2025 sollen es bereits 90 Millionen sein.
Interview: Inflation, Arbeitslosigkeit und Importüberschuss – ein Experte benennt die ökonomischen Baustellen
Die türkische Erfolgsstory ist bemerkenswert, die Aussichten heiter, das Land feiert seinen Aufschwung und klopft wieder laut an Brüsseler EU-Türen.
Doch einer gießt gern mal Wasser in den Wein: der ebenso renommierte wie ausgesprochen streitbare türkische Ökonom und Publizist Mustafa Sönmez.
AKTIV hat mit ihm gesprochen. Und ihn gefragt, warum er so gern die Spaßbremse gibt.
Geht die türkische Boom-Party weiter?
Das ist nicht garantiert. Weil das Wachstumsmodell nicht nachhaltig ist. Eigentlich ist es sogar sehr zerbrechlich.
Warum das? Wo sehen Sie denn mögliche Stimmungskiller?
Ein wichtiger Punkt ist das noch immer existierende große Leistungsbilanzdefizit.
Was bedeutet das?
Wir importieren mehr, als wir exportieren. Im vergangenen Jahr haben wir Waren und Dienstleistungen für 150 Milliarden Dollar ins Ausland verkauft, dort aber für 235 Milliarden Dollar eingekauft. Das kann nicht ewig gut gehen.
Was muss also passieren?
Wir müssen uns bemühen, unabhängiger von ausländischen Investoren zu werden. Aber das ist nur eins von den Problemen, die wir noch zu lösen haben.
Welche da wären?
Unsere Inflation ist mit über 6 Prozent noch immer viel zu hoch. Ich befürchte zudem, dass wir bei der Preissteigerung bald sogar wieder zweistellige Raten sehen werden.
Was ist mit dem Arbeitsmarkt?
Unsere Arbeitslosigkeit liegt bei etwa 10 Prozent. Und auch die noch immer weitverbreitete Schwarzarbeit gefällt mir nicht besonders.
Trotz aller Hausaufgaben: Die Türkei steht besser da als ihre Nachbarn. Warum?
Wir haben extrem davon profitiert, deutlich stärker in die globale Wirtschaft eingebunden zu sein als noch vor zehn Jahren.