Der Arbeitsmarkt in ganz Deutschland leidet unter der schwachen Wirtschaft. Zwar steht Bayern im bundesweiten Vergleich mit einer Arbeitslosenquote von 3,8 Prozent im September noch relativ gut da, doch im Vergleich zum Vorjahresmonat nahm die Arbeitslosigkeit um mehr als 12 Prozent zu!
Auch für die nächsten Monate signalisieren die offiziellen Arbeitsmarkt-Barometer eine ungünstige Entwicklung in ganz Deutschland, gerade in der Industrie. Was sind die Ursachen für diese Entwicklung? Darüber sprach aktiv mit dem Ökonomen Oliver Stettes, Leiter des Clusters Arbeitswelt und Tarifpolitik am Institut der deutschen Wirtschaft.
Herr Stettes, in den Nachrichten hört und liest man immer wieder von Stellenabbauplänen. Wie groß ist unser Problem mit Arbeitslosigkeit?
Tendenziell nimmt die Arbeitslosigkeit zu. Wir haben einen deutlichen Zuwachs im Vergleich zum Vorjahr, im September waren es etwa rund 2,8 Millionen Arbeitslose. Darüber hinaus sehen wir einen deutlichen Zuwachs an Arbeitslosen gegenüber der Zeit vor den beiden großen Krisen, also dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine sowie der Coronazeit. Kurz: Ja, wir haben einen strukturellen Anstieg sowohl bei der Arbeitslosenzahl als auch bei den Langzeitarbeitslosen.
Ist das nur ein vorübergehendes Konjunkturphänomen?
Das haben wir lange angenommen, unter anderem auch, weil die Coronakrise die bereits schwelende Rezession in der Industrie überdeckt hat. Aber wir haben heute ein komplett verändertes Umfeld im Vergleich zu 2019. Das deutet eher auf ein strukturelles Problem hin.
Woran kann man das festmachen?
Die geopolitische Lage ist durch den Ukraine-Krieg anders, er hat die Energiepreiskrise hervorgerufen. Wir haben Verwerfungen auf den internationalen Märkten, De-Globalisierungs- und Regionalisierungstendenzen. Neue Wettbewerber auf dem Markt bedrängen deutsche Unternehmen. Bei der Digitalisierung sind wir weiterhin nicht vornedran, und ob wir die Potenziale etwa von künstlicher Intelligenz adäquat nutzen können, ist noch offen. Wir haben eine sehr geringe Investitionstätigkeit, und wir haben den demografischen Wandel, der nicht nur jetzt sozusagen vor der Tür steht, sondern voll einschlägt. Diese Gemengelage zeigt, wo wir jetzt stehen.
Was sind also die Folgen auf dem Arbeitsmarkt?
Der Anstieg der Arbeitslosigkeit ist das eine. Große Sorge bereitet mir aber, dass die Unternehmen weniger Stellen ausschreiben. Denn nur wenn der Laden läuft, entstehen neue Jobs. Viele Betriebe stehen jedoch wirtschaftlich so unter Druck, dass die Nachfrage nach neuen Arbeitskräften stark gesunken ist, im Jahr 2024 auf ein Level, das wir so niedrig nur während Corona und in der Finanzkrise von 2010 gesehen haben.
Was läuft hier schief?
Die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind deutlich ungünstiger. Unser Standort ist weniger wettbewerbsfähig als noch vor einer Dekade. Da sind etwa hohe Energiepreise, Bürokratielasten, hohe Arbeitskosten, die für Unternehmen im internationalen Wettbewerb eine große Herausforderung sind. Gleichzeitig müssen wir trotz dieser Standortprobleme die Transformation hin zu einer CO2-neutralen Wirtschaft organisieren.
Ist die Transformation nicht auch eine Chance für den Arbeitsmarkt?
Wie bei jedem Strukturwandel ist es so, dass durch den Umbau Arbeitsplätze wegfallen, weil unter anderem die Qualifikationen der Beschäftigten nicht mehr benötigt werden. Sie sind aber nicht automatisch kompetent im neuen Bereich, der entsteht, und können auch nicht immer qualifiziert werden. Das erklärt unter anderem auch, warum Unternehmen einerseits Stellen abbauen, andererseits jedoch händeringend Fachkräfte für die Transformation suchen. Hier haben wir einen Mismatch. Übrigens auch räumlich: Wer etwa in Augsburg arbeitslos wird, zieht nicht so schnell nach Hamburg, wo sein Jobprofil vielleicht gerade gefragt ist.
Trotzdem sagen Forscher, unser Arbeitsmarkt sei noch robust.
Das ist trügerisch. Klar, wir sind immer noch auf dem Hochplateau, haben so viele sozialversicherungspflichtig Beschäftigte wie nie. Aber die Langzeitarbeitslosen werden mehr. Dazu kommt: Die Betriebe halten trotz Krise an Personal fest, da sie wissen, dass in den nächsten Jahren der demografische Wandel voll durchschlägt und sich viele in die Rente verabschieden – und sie dann keine Arbeitskräfte mehr finden. Gleichzeitig wird die steigende Anzahl der Rentenempfänger bei parallel weniger Arbeitskräften zum Problem, was wiederum unsere Wettbewerbsfähigkeit einschränkt: Die Sozialabgaben werden steigen und damit auch die Arbeitskosten. Wir drohen in eine Spirale hineinzugeraten, die auf Dauer den Standort in eine noch größere Schieflage als ohnehin schon bringen könnte.
Alix Sauer hat als Leiterin der aktiv-Redaktion München ihr Ohr an den Herausforderungen der bayerischen Wirtschaft, insbesondere der Metall- und Elektro-Industrie. Die Politologin und Kommunikationsmanagerin volontierte bei der Zeitungsgruppe Münsterland. Auf Agenturseite unterstützte sie Unternehmenskunden bei Publikationen für Energie-, Technologie- und Mitarbeiterthemen, bevor sie zu aktiv wechselte. Beim Kochen und Gärtnern schöpft sie privat Energie.
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