Puebla. Der Tag war lang, er hat Hunger, er will jetzt Fleisch, und zwar schnell! Es ist kurz nach halb acht abends, als Iván Vásquez (21) nach Hause kommt. Scheppernd fällt hinter ihm die Blechtür ins Schloss. Feierabend!

Die pubertierenden Cousinen kichern zur Begrüßung, und Pitbull Spike kläfft sich die Seele aus dem Leib. Vásquez steuert direkt auf die Küche zu – zum Fleisch-Eintopf von Oma Gloria Ramirez! Ein paar flüchtige Küsschen noch, eine Umarmung für die Tante, dann sitzen sieben Familienmitglieder aus drei Generationen am Küchentisch.

Der junge Mann mit dem pechschwarzen Haar würde jetzt gern den Eintopf löffeln. Geht aber nicht, er muss erst mal erzählen. Wie es denn heute wieder so war bei den Deutschen.

Was er gemacht, was er gelernt hat. „Ich war an der Drehmaschine“, sagt Iván. „Es läuft immer besser.“ Jeden Tag geht das so. Iván kommt heim, Iván muss erzählen. Es ist, als könnten sie daheim am Küchentisch immer noch nicht glauben, was ihr Iván da tagtäglich tut: „Er macht eine richtige Berufsausbildung!“, raunt Oma Gloria.

Eine Ausbildung! Das klingt, als glaube die rüstige Dame, ihr Iván könne bald auch noch übers Wasser laufen.

So ganz unbegründet ist das nicht. Denn: Hier in Mexiko ist ihr Iván tatsächlich so etwas wie ein „Auserwählter“.

Ausbilder werden aus Deutschland eingeflogen

Als einer von 60 jungen Mexikanern absolviert Vásquez derzeit in der 1,5-Millionen-Stadt Puebla, zwei Autostunden südöstlich von Mexico City, eine Lehre nach deutschem Vorbild. Sie dauert die vollen drei Jahre – und die Ausbilder werden eigens aus Alemania eingeflogen. Am Ende steht eine Prüfung mit dem Segen der Industrie- und Handelskammer.

Um das leisten zu können, haben sich gleich sechs deutsche Unternehmen zusammengetan. Und ein Ausbildungszentrum ins Leben gerufen: das „Centro de Especialización Dual“, kurz „CeDual“.

Ausgebildet werden hier Werkzeugmacher und Maschinenschlosser. Gelernt wird unter optimalen Bedingungen: Dreh-, Fräs-, Schleif- und Bohrmaschinen, dazu 30 professionell bestückte Werkbänke, drei Klassenräume sowie ein Hörsaal stehen bereit.

Duale Ausbildung! „Bevor ich meine Lehre anfing, hatte ich keine Ahnung, was das ist“, erzählt Iván Vásquez zwischen zwei Löffeln von Oma Glorias Eintopf. Aber jetzt wisse er, sagt er, und er klingt dabei schon wie ein kleiner Pressesprecher: „Aber jetzt weiß ich, ich werde da fit gemacht für meine Zukunft. Und ich bin sehr stolz, dabei zu sein.“

Praxis-Part im Betrieb und Theorie in der Berufsschule – für uns ist das selbstverständlich. Für mexikanische Verhältnisse dagegen ist diese Art von Nachwuchsförderung revolutionär.

Video: So macht Deutschland Azubis in Mexiko fit für den Beruf

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5.000 Pesos verdient ein Azubi monatlich, etwa 285 Euro

Zwar ist die Industrie in dem lateinamerikanischen Schwellenland in den letzten 15 Jahren stark gewachsen. Tausende Firmen aus Europa, Amerika und Asien produzieren vor allem Autos oder Elektronik – insbesondere für den Export in die USA. Hauptvorteil: die günstigen Lohnkosten. Eine organisierte Berufsausbildung wie in Deutschland aber gibt es nicht, Nachwuchskräfte werden nur angelernt. Die Folge ist ein eklatanter Facharbeitermangel.

Stefan Antel, Mexiko-Chef des schwäbischen Pressenbauers Schuler, hat den erlebt. „Für die Wartung unserer Maschinen beim Kunden haben wir ständig vergeblich Leute gesucht.“ Der 44-Jährige – Typ Wellenreiter mit Jeans und blonder Bürstenfrisur – ist in Eile. Gestern noch war er in den USA, gleich will er schon wieder weg, mit dem Jeep in die Stadt Acapulco, die gerade von einem Wirbelsturm heimgesucht wurde. „Unsere Belegschaft hat Hilfsgüter gesammelt. Ich bring die dahin.“

„Der Staat kommt hier nicht aus den Hufen. Also mussten wir uns selber helfen“

Der Mann packt die Dinge an: So war das auch beim Facharbeiter-Problem. „Es gab zwei Alternativen“, sagt Antel. „Entweder sauteure Ausländer einfliegen, aber hier hält es nicht jeder lange aus.“ Oder eben selbst junge Mexikaner ausbilden. „Allein war das aber nicht zu stemmen – also habe ich rumgefragt, welche Firma denn mitmachen würde.“ Der Schuler-Manager rannte offene Türen ein. Auch bei Allgaier, der Firma des deutschen Arbeitgeberpräsidenten Professor Dieter Hundt.

Seit ein paar Jahren produziert Allgaier in Puebla Teile für die boomende Auto-Industrie: Seit Jahrzehnten fertigt Volkswagen im Land, neuerdings haben US-Hersteller massiv investiert, und ab 2015 will auch Audi in der Hochebene Pueblas jährlich 150.000  Luxus-Geländewagen vom Band rollen lassen. Für einen Mittelständler wie Allgaier, sagt Mexiko-Personalchef Johannes Schindler, ist das Segen und Fluch zugleich.

1.300 deutsche Firmen sind in Mexiko

Ein Segen wegen der absehbaren Auftragsflut. „Und ein Fluch, weil die Autobauer den Fachkräftemangel hier nochmals verschärfen.“ Also stieg man mit ein in die überbetriebliche Ausbildungswerkstatt.

Insgesamt 13  Allgaier-Auszubildende im ersten und zweiten Lehrjahr lernen derzeit im CeDual ihr Handwerk. „Der Staat kommt hier bei der Ausbildung ja nicht aus den Hufen“, sagt Allgaier-Personaler Schindler. „Also mussten wir Firmen uns eben selbst helfen.“

Seit einem guten Jahr läuft das Projekt mittlerweile. Und die Zwischenbilanz kann sich sehen lassen. „Unsere Jungs sind extrem engagiert“, sagt Gerd-Uwe Krah, Ausbildungsleiter im CeDual. „Sie wissen genau, was sie hier für eine Chance kriegen.“ Und er fügt trocken hinzu: „Es gibt in Mexiko ja kein soziales Netz, das sie auffängt, wenn sie das hier versemmeln.“

Dafür nehmen die 60 jungen Leute so einiges in Kauf. Auch Iván Vásquez.

Täglich um kurz nach fünf in der Früh klingelt sein Wecker. Ein hastiges Frühstück, dann eineinhalb Stunden Fahrt mit dem chronisch überfüllten Minibus bis zum Schuler-Werk, auf dessen Gelände das CeDual steht.

„Um Viertel vor acht geht’s dann hier los“, erzählt er. „Wir bekommen unsere Aufgaben, die Zeichnungen, dann gehen wir an die Maschinen.“ Feierabend ist gegen 18 Uhr. Und dann warten wieder die Minibusse, es geht zurück nach Hause, über staubige Pisten oder ewig verstopfte Autobahnen.

Die Azubis im CeDual haben den festen Job schon sicher

Früher hat er sich nur von Praktikum zu Praktikum gehangelt. Die Ausbildung im CeDual ist der erste bezahlte Job. „Ich verdiene 5.000 Pesos im Monat – das ist viel Geld für uns.“

Dazu gibt’s ein Paket aus Krankenversicherung und Sozialleistungen. Mit seinem Nettolohn unterstützt er die Familie. „Davon bezahlen wir die Schule meines Bruders.“ Das Opfer bringt Vásquez gern: „Ich weiß, dass ich mir nie wieder Sorgen um einen guten Job machen muss, wenn ich die Ausbildung hier schaffe!“

Wie alle Azubis hat auch er für die Zeit nach der Prüfung bereits eine Arbeitsplatz-Garantie. „Einen Dreijahresvertrag hab ich dann schon in der Tasche“, sagt er. Den Deutschen liegt daran, dass er bleibt – wenn er den Vertrag erfüllt, winkt eine Prämie.

„Ich will ihnen später helfen, in Mexiko zu wachsen“, sagt er am heimischen Küchentisch. Und wer ihn anguckt, merkt: Der meint das tatsächlich ernst. Oma Gloria strahlt, steht auf und holt den Topf. Nachschlag für den Jungen!

Hintergrund

Praxis: In der Werkstatt schaut Ausbilder Gerd-Uwe Krah genau hin. Foto: Straßmeier
Praxis: In der Werkstatt schaut Ausbilder Gerd-Uwe Krah genau hin. Foto: Straßmeier

Das System der dualen Berufsausbildung

  • Duale Ausbildung bedeutet, dass der überwiegende Teil der Lehre im Betrieb erfolgt, ergänzt durch Unterricht in der Berufsschule. Für beide Lernorte gibt es eigenständige, aber aufeinander abgestimmte Regelungen.
  • Die duale Ausbildung ist kein rein deutsches Phänomen. Flächendeckend wird sie auch in Österreich, der Schweiz sowie ­regional in Südtirol angeboten.
  • Derzeit gibt es in Deutschland etwa 350 anerkannte Berufsbilder, in denen dual ausgebildet wird.
  • International war das System oft umstritten. So wurde es lange Zeit von der einflussreichen Industriestaaten-Denkfabrik OECD in Paris kritisiert. Ihr Argument: Es führe zu einer im internationalen Vergleich niedrigen Akademikerquote.
  • Zuletzt aber hat auch die OECD umgedacht. In einer aktuellen Studie setzt sie die Berufsausbildung erstmals mit einem Hochschulstudium gleich: „Am deutschen Arbeitsmarkt haben berufliche Qualifikationen einen ebenso hohen Stellenwert wie andere Bildungsabschlüsse.“