Marl. 90 Prozent aller Chemieprodukte von der Shampoo-Flasche bis hin zum Superabsorber für Windeln basieren auf Erdöl. Doch das schwarze Gold ist endlich, und der zurzeit niedrige Preis dürfte eines Tages wieder steigen.
Weltweit suchen Forscher deshalb nach einer Alternative – beim Spezialchemie-Hersteller Evonik am Standort Marl sind die Wissenschaftler jetzt einen entscheidenden Schritt vorangekommen. Sie haben einen Weg gefunden, mit dem sich Vorprodukte für Kunststoffe, Futtermittel, Lacke oder Textilien mithilfe von Bakterien herstellen lassen.
Ein Enzymsystem soll die Reaktion antreiben
„Unsere Bakterien sind dabei in der Lage, Gase als Rohstoffquelle zu nutzen, die zum Beispiel bei der Verbrennung kommunaler Abfälle entstehen oder aus Resten der Agrarwirtschaft und Industrieproduktion stammen“, erklärt Steffen Schaffer, Spezialist im Bereich synthetische Biologie bei Evonik.
Zunächst bilden die Bakterien aus den Gasmolekülen größere chemische Bausteine. Mithilfe von Enzymen sollen daraus kurzkettige Kohlenwasserstoff-Verbindungen entstehen – das sind begehrte Vorprodukte für Basis-Chemikalien. Doch ganz von allein laufen die gewünschten Reaktionen nicht ab.
Der Schlüssel zum Erfolg sind die Enzyme, die hier die Rolle eines Katalysators, also eines Reaktionsbeschleunigers, übernehmen: „Zwei Moleküle, die von selbst nicht miteinander reagieren, verhalten sich anders, wenn ein Katalysator im Spiel ist“, so der Fachmann. Das kennt man etwa vom Autokatalysator, der Abgase in harmlose Stoffe verwandelt.
In der Natur übernehmen das die Enzyme: „Man kann sie sich als winzige Maschinen vorstellen, die in der ‚Minifabrik Bakterie‘ arbeiten“, veranschaulicht Kollegin Anja Thiessenhusen den hoch komplizierten Vorgang. Dem Team ist es nun gemeinsam mit Forschern der Universität Graz gelungen, ein neues, sehr spezielles Enzymsystem zu entwickeln – quasi den Prototyp einer solchen Maschine.
Im nächsten Schritt muss es gelingen, das System in die Bakterie zu integrieren. Erst dann wird diese in der Lage sein, die gewünschten Vorprodukte, also kurzkettige Kohlenwasserstoffe, herzustellen.
Eine weitere Herausforderung für die Wissenschaftler: Die neuen biotechnologischen Verfahren müssen sich betriebswirtschaftlich rechnen und sich nahtlos in die auf maximalen Ertrag getrimmten, erdölbasierten Produktionswege und Stoffströme einfügen lassen. „Der Weg zum industriellen Produktionsprozess in großem Maßstab ist noch lang“, bremst Steffen Schaffer zu hohe Erwartungen. „Bis zur Marktreife werden noch gut 10 bis 20 Jahre ins Land gehen.“
Wenn es so weit ist, lassen sich aus einem Mix aus Kohlenmonoxid oder Kohlendioxid und Wasserstoff hochwertige Verbundstoffe herstellen – auch ganz ohne Erdöl.