Berlin. Die Große Koalition hat sich zu viel ums Verteilen gekümmert und zu wenig ums Erwirtschaften: Unsere Soziale Marktwirtschaft gab sich zuletzt sehr sozial – man dachte aber zu wenig an die Basis für jedwede Wohltat, den Markt.
Diesen Befund unterschreiben praktisch alle Ökonomen im Lande. Allen voran die „Fünf Wirtschaftsweisen“ im Sachverständigenrat: „Die Bundesregierung hat die gute ökonomische Entwicklung der vergangenen Jahre nicht ausreichend für Reformen genutzt“, betonen sie in einem über 500 Seiten starken Gutachten, „in den kommenden Jahren sollte sich die Wirtschaftspolitik stärker an der Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft orientieren.“
Handlungsbedarf mahnen die Experten in einer ganzen Reihe von Politikfeldern an. AKTIV greift fünf zentrale Bereiche heraus, die Industriebeschäftigte direkt betreffen.
1. Heimliche Steuer-Erhöhung beenden
Beim Thema Staatsfinanzen ist klar: Der Handlungsspielraum ist ziemlich eingeschränkt. Entlastung der Bürger ist trotzdem drin.
Inzwischen kommt der Bund, dank guter Konjunktur und sehr niedriger Zinsen, ohne neue Schulden klar – die „schwarze Null“ steht. Ab 2020 müssen das laut Grundgesetz auch alle Bundesländer schaffen, für manche wird das noch ein Kraftakt. Und an den bisher aufgehäuften Schuldenbergen ändert die Schuldenbremse in der Verfassung alleine nichts. Deutschland insgesamt steht aktuell mit 68 Prozent seiner jährlichen Wirtschaftsleistung in der Kreide. Laut EU-Vertrag von Maastricht sollten es höchstens 60 Prozent sein.
Der Sachverständigenrat mahnt denn auch, „die Schuldenquote weiter zurückzuführen“. Was jetzt trotzdem angebracht sei: die „vollständige Korrektur der kalten Progression“. Übersetzt heißt das: Schluss mit heimlichen Steuer-Erhöhungen! Die gibt es regelmäßig, am Parlament vorbei: Wenn ein Lohnanstieg die Inflation ausgleicht, man also real nicht mehr hat als zuvor, steigt trotzdem wegen des höheren nominalen Einkommens der Steuersatz. Von 2011 bis 2015 kassierte der Staat so 36,5 Milliarden Euro zu viel, wie das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) vorrechnet. Eine automatische Anpassung des Steuertarifs an die Inflation würde dieses Ärgernis aus der Welt schaffen.
2. Bildungschancen verbessern
Internationale Vergleiche machen klar: Bei den Bildungsausgaben wie bei der Chancengerechtigkeit sollte Deutschland nachbessern.
Bei den Ausgaben liegen wir unter dem Schnitt der 35 in der OECD organisierten Industriestaaten. Und was die Chancen angeht: Trotz mancher Fortschritte hängt der Schulerfolg bei uns immer noch ziemlich stark vom Elternhaus ab – zudem hat sich der Anteil der Leute ohne abgeschlossene Berufsausbildung oder Abitur über Jahrzehnte kaum verändert. Von den heute 25- bis 34-Jährigen sind fast so viele ungelernt (13 Prozent) wie von den 55- bis 64-Jährigen (14 Prozent).
Was also tun, damit gleich begabte Kinder tatsächlich möglichst gleiche Startchancen bekommen? Antwort des Sachverständigenrats: Die Politik sollte den Ausbau der frühkindlichen Betreuung weiter vorantreiben – und ein „kostenfreies Vorschuljahr“ einführen, also das letzte Kindergartenjahr verpflichtend und beitragsfrei machen.
Dazu muss man wissen, dass Investitionen in Bildung künftig noch wichtiger werden. Zum einen, weil der Bedarf der Betriebe an ungelernten Kräften sinkt – zum anderen, weil der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund steigt. Speziell mit Blick auf die Flüchtlinge empfiehlt der Sachverständigenrat: „Altersgrenzen für den Schulbesuch könnten erhöht und die Berufsschulpflicht in allen Bundesländern bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres ausgeweitet werden.“ In Bayern etwa ist das schon geschehen.
3. Rente auf Rädern vorbereiten
Das Sozialsystem wird zu teuer. Aus Sicht der Wirtschaft wird gerade die Schmerzgrenze überschritten: Der Gesamtbeitragssatz – also das, was Betriebe und Mitarbeiter insgesamt an die verschiedenen Sozialversicherungen bezahlen müssen – überschreitet die 40-Prozent-Marke. Denn wegen zusätzlicher Leistungen geht jetzt mehr Geld an die Pflegekasse.
Das Altern der Gesellschaft wird aber erst ab 2020 so richtig spürbar, wie Wirtschaftsforschungsinstitute in einer gemeinsamen Studie für die Regierung warnen: „Diese demografische Wende dürfte mit kräftig steigenden Sozialabgaben einhergehen.“ Rat der Experten: „Die Politik sollte für Entlastung sorgen anstatt für immer neue Ausgabentatbestände.“ So sollten versicherungsfremde Leistungen wie etwa die Mütterrente künftig vollständig über Steuern finanziert werden, das würde Beitragssenkungen möglich machen.
Auf Dauer wird das nicht reichen – denn der Anteil der Senioren (ab 67!) steigt in den nächsten Jahrzehnten dramatisch an. Für den Sachverständigenrat steht daher fest: „Eine weitere Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters ist unausweichlich.“ Ab 2030 sollte es einfach an die Lebenserwartung gekoppelt werden: Wenn diese künftig weiter steigt, wird man automatisch entsprechend später Rentner.
4. Schwache am Arbeitsmarkt stärken
Der Jobmarkt zeigt sich seit Jahren sehr stabil. Die Beschäftigung ist hoch wie nie, die Arbeitslosigkeit immer weiter gesunken (im November lag die Quote bei 5,7 Prozent). Diese gute Entwicklung darf nicht gefährdet werden: Die Politik muss alles unterlassen, was Arbeit verteuert und den Betrieben Flexibilität raubt. Die Wirtschaft warnt daher jetzt vor Plänen, einen Anspruch auf befristete Teilzeit für alle einzuführen.
Zudem ist jeder dritte Arbeitslose schon länger als ein Jahr ohne Job. Diese „verfestigte“ Arbeitslosigkeit und die Integration von Zuwanderern sind „große Herausforderungen“, wie der Sachverständigenrat betont. Gerade Geringqualifizierten hilft ein möglichst flexibler Arbeitsmarkt: „Die Einstiegshürden sollten niedrig gehalten werden. Zeitarbeit und Werkverträge sowie selbstständige Arbeit bieten Chancen.“ Also sollten geschützte Dienstleistungsbereiche offener werden – durch die „Abschaffung des Meisterzwangs bei nicht gefahrgeneigten Berufen“.
5. Strompreis unter Kontrolle bringen
Für die allermeisten Industriebetriebe sind die Strompreise gefährlich hoch – und gerade erst ist die EEG-Umlage zur Förderung der erneuerbaren Energien schon wieder gestiegen. Tatsächlich ist die Energiewende in Sachen Strom bisher „spektakulär ineffizient“, so der Sachverständigenrat. Die Kosten seien „förmlich explodiert, ohne dass der Stromsektor einen großen Beitrag zur Einsparung von Treibhausgasemissionen geleistet hätte“.
Was helfen würde: mehr Marktwirtschaft – und weniger nationaler Alleingang. Immerhin treibt die EU inzwischen die „Energieunion“ voran, also den Binnenmarkt für Strom mit Wettbewerb in grenzüberschreitenden Netzen. Dabei soll Ökostrom nicht mehr zwingend bevorzugt eingespeist werden. Was davon wie umgesetzt wird, ist noch offen – aber immerhin, so das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW): „Die Vorschläge der EU-Kommission zeigen in die richtige Richtung und könnten auch die deutsche Energiepolitik disziplinieren.“
Konjunktur 2017: Die Prognose der Experten

Was bringt 2017? Für Durchblick sorgt „Consensus Economics“. Die in London ansässige Beratungsfirma verdichtet die Vorhersagen von rund 30 deutschen Wirtschaftsforschungsinstituten, Banken und Versicherungen. Im Schnitt erwarten sie jetzt:
Weniger Wachstum. Die Wirtschaft wird preisbereinigt um 1,3 Prozent zulegen, nach 1,9 Prozent 2016. Grund ist vor allem ein „Kalendereffekt“: Das letzte Jahr war ja ein Schaltjahr, zudem lagen Feiertage für die Betriebe günstiger.
Mehr Inflation. Die Verbraucherpreise steigen dieses Jahr etwas stärker. Die Teuerung wird im Jahresdurchschnitt bei 1,7 Prozent liegen, 2016 waren es nur 0,5 Prozent. Ein wichtiger Grund: der höhere Ölpreis.
Stabiler Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenquote wird laut Prognose im Jahresmittel unverändert bei 6,1 Prozent liegen. Dass 2017 deutlich mehr Geflüchtete eine Beschäftigung suchen werden, ist dabei schon mitgedacht.