Die Anzeige lässt aufhorchen: Ein mittelständisches Modeunternehmen aus Nordrhein-Westfalen, laut Annonce inhabergeführt und erfolgreich im Bereich Damenoberbekleidung, sucht Produktionskapazitäten – in Europa. Geschaltet wurde diese Suche vor wenigen Wochen in einem bekannten Portal für die Textil- und Modebranche.
Kein Einzelfall. Der Sportartikel-Händlerverbund Intersport will seine Eigenmarken vermehrt in Europa und Nordafrika fertigen lassen. Der Modekonzern Hugo Boss
„Was in Europa verkauft wird, soll in Europa produziert werden.“
Daniel Grieder, CEO Hugo Boss
Dass Unternehmen beginnen, zumindest für Teile ihrer Fertigung ein zweites Standbein in oder nahe Europa zu suchen, beobachtet auch der Branchenverband German Fashion. „Die Unternehmen wollen einen Fuß in der Tür haben, ihre Lieferketten diversifizieren“, erklärt Verbandsvertreterin Tanja Croonen das Phänomen des sogenannten Nearshorings. Sich allein auf die immer noch wichtigen, aber eben sehr weit entfernten Lieferanten in Asien zu verlassen, erscheint vielen zu unsicher. Zu präsent sind noch die schlechten Erfahrungen während der Corona-Pandemie.
Rund 20 Prozent weniger Bekleidungsimporte aus Asien
Welche Folgen das neue Denken hat, zeigt eine Auswertung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Demnach gingen die deutschen Bekleidungsimporte aus Entwicklungsländern 2023 um rund 20 Prozent zurück. Am höchsten fiel das Minus mit knapp 33 Prozent bei indonesischen Textilien aus, die Einfuhren aus Myanmar, China, Bangladesch und Pakistan verringerten sich jeweils um mehr als 20 Prozent. Ein sattes Plus in der Importstatistik verzeichnete hingegen Nordmazedonien (rund 16 Prozent), gefolgt von Marokko und Tunesien.
Die beiden nordafrikanischen Länder dürfen dank entsprechender Abkommen freien Handel mit der EU betreiben. Als einen Grund für die Verschiebung der Produktion, durch die in den betroffenen Ländern auch Arbeitsplätze wegfallen, sehen die IW-Forscher das 2023 eingeführte Lieferkettengesetz. Es verpflichtet Unternehmen, ihre gesamte Lieferkette aufwendig zu kontrollieren. Außerdem geht es auch um Sicherheit, um Schnelligkeit – und um die Kosten.
Unternehmen wollen die Abhängigkeit von Asien verringern
Auf dem Seeweg sind Waren aus den Niedriglohnländern Asiens oft mehr als 30 Tage unterwegs – entlang einer Route, auf der kriegerische Konflikte und politische Spannungen immer wieder aufflammen. Das macht den Transport teuer und die Kosten kaum kalkulierbar.
Unternehmen müssen derzeit für einen 40-Fuß-Standardcontainer fast dreimal so viel Frachtkosten zahlen wie vor einem Jahr. Auch deshalb ist für Boss-Chef Grieder mittlerweile klar: „Wir wollen in der Beschaffung und Produktion die Abhängigkeiten verringern – selbst wenn es günstiger wäre, nur in Asien zu produzieren.“
Anja van Marwick-Ebner ist die aktiv-Expertin für die deutsche Textil- und Bekleidungsindustrie. Sie berichtet vor allem aus deren Betrieben sowie über Wirtschafts- und Verbraucherthemen. Nach der Ausbildung zur Steuerfachgehilfin studierte sie VWL und volontierte unter anderem bei der „Deutschen Handwerks Zeitung“. Den Weg von ihrem Wohnort Leverkusen zur aktiv-Redaktion in Köln reitet sie am liebsten auf ihrem Steckenpferd: einem E-Bike.
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