Weilheim. Leben ist nicht das, was man plant. Sondern das, was einem passiert. Wer das bezweifelt, sollte Menschen wie Gerhard D. fragen. Der 59-Jährige, ein kleiner Herr mit akkurat gestutztem Grauhaar, steht an diesem kalten Novemberdonnerstag vor der Weilheimer Apostelkirche, in der Hand eine Plastiktüte. Darin: Salat, Kohlrabi, Weißkraut, ein Apfel, ein Liter Milch, ein Brot. Es sind Lebensmittelspenden. Von der örtlichen Tafel. „Für den Supermarkt bin ich zu arm“, sagt Herr D.

Jede Woche stellt er sich in die Schlange vor der Tafel. Und jedes Mal fühlt es sich an wie eine Schmach. „Ich habe immer gearbeitet, bis heute. Trotzdem lebe ich von Almosen. Das ist beschämend.“

1,5 Millionen Menschen sind in Deutschland auf Almosen angewiesen

Thema Armut: Es scheint, als läuft da was nicht ganz rund in unserem Land. Seit Jahren kesselt die Wirtschaft auf Hochtouren, nie waren mehr Menschen in Lohn und Brot, nie war der Wohlstand größer. Das ist die eine Seite.

Die andere: Woche für Woche stehen in Deutschland nach Zahlen des Berliner Bundesverbands Deutsche Tafel 1,5 Millionen Menschen Schlange – für Brot! Oder Butter. Für Obst oder Gemüse. Sie versorgen sich bei den mittlerweile fast 1.000 Tafeln, so nennen sich die meist von Ehrenamtlern betriebenen Ausgabestellen, mit Essbarem.

Der Grundgedanke der Tafeln ist so simpel wie sympathisch: Waren, die Supermärkte nicht verkauft haben, die aber noch verzehrbar sind, werden vor der Mülltonne gerettet. Und verteilt. An Arbeitslose, Rentner, Alleinerziehende, Aufstocker, Migranten.

Klingt erst mal gut. Nach Win-win-Situation. Doch das System Tafel sieht sich mittlerweile auch lauter werdender Kritik ausgesetzt. Von renommierten Wissenschaftlern. Die stark bezweifeln, dass Tafeln Armut wirklich bekämpfen können. Aber dazu später mehr.

In Weilheim (Oberbayern) steht Eva-Maria Muche, Leiterin der örtlichen Tafel, schon seit Stunden unter Starkstrom. Muche, selbstständige Architektin, dirigiert, koordiniert, telefoniert. Kleintransporter karren Lebensmittel herbei. Eine Tonne wird am Ende zusammenkommen, jede Woche.

Problem: „Man weiß vorher nie so genau, was man von den Supermärkten bekommt“, sagt Muche. Brot sei eigentlich immer genug da, Gemüse auch, „bei Milchprodukten ist es schwieriger, Haltbares wie Nudeln kommt fast nie rein“. Durch Zukäufe, finanziert aus Spenden, versuchen Muche und ihre Mitstreiter, Lücken zu schließen. Wenn am Ende was fehlt, dann fehlt es halt. Muche: „Wir sind kein Vollsortimenter.“

Seit 13 Jahren existiert die Tafel in Weilheim nun, „mit ein paar Biertischen im Freien haben wir angefangen“. 70 Bedürftige seien damals versorgt worden, „heute sind es fast 500“.

Mittlerweile ist alles eingeräumt, Ungenießbares aussortiert, geduldig stehen die ersten „Kunden“, wie man Bedürftige im Tafeldeutsch nennt, an. An ihre Jacken gepinnt tragen sie farbige Ausweise, je nach Zahl der Personen im Haushalt. „So wissen die Austeiler, wie viel der Kunde erhalten darf“, erklärt Muche. Wie bei vielen Ausgabestellen im Bundesgebiet übernimmt auch die Weilheimer Tafel die Bedürftigkeitsprüfung.

„Dazu muss der Hartz-IV- oder der Grundsicherungsbescheid vorgelegt werden“, sagt Muche. Sechs Wochen dauere es, dann könne der Ausweis ausgegeben werden. „Die Wartezeit sorgt auch für eine gewisse Wertschätzung“, sagt Muche nüchtern. Auch Gerhard D., der Mann mit dem grauen Haar, hat das über sich ergehen lassen müssen. Seit vier Jahren kommt er zur Tafel, „am Anfang mit hochgeschlagenem Mantelkragen, dass mich bloß keiner erkennt“, sagt er.

Schuld, dass er jetzt auf der Schattenseite des Lebens steht, war ein einziger Fehltritt. An einem regennassen Tag vor zehn Jahren wollte D., gelernter Bodenleger, seinen Transporter entladen. Er rutschte aus, ein Schneidegerät zertrümmerte seine Hand. Es folgten zig Operationen, doch das Feingefühl in der Hand kam nie zurück. Der Job war weg, er bemühte sich, fand Hilfstätigkeiten, „mal im Lager, mal in einer Kosmetikfirma“.

Dazwischen lebte er vom Ersparten, „ich bin nie einem zur Last gefallen“. Das Geld ist längst weg, er arbeitet halbtags als Hausmeister. Als sogenannter Aufstocker bekommt er einen Zuschuss vom Amt – und die Empfehlung, sich doch bei der Tafel zu versorgen. „Ich fühle mich an den Rand gedrängt.“

Es sind Schicksale wie das von Gerhard D., die sich hier brav in die Schlange stellen. Um für die nächsten Tage von dem zu leben, was sonst weggeschmissen würde. Eine ehemalige Schneiderin lebt von nur 825 Euro Rente und empfindet sich als „völlig mutlos, entwürdigt, als Bittstellerin“.

Eine Alleinerziehende kommt trotz Teilzeit-Verkäuferinnenjob nicht hin. „Rotz und Wasser geheult“ habe sie beim ersten Gang zur Tafel, sagt die junge Frau. Die Tafel-Helfer seien alle freundlich, bis zur Erschöpfung engagiert. Das Schamgefühl bleibe dennoch. „Aber mit meinem Sohn über den Monat kommen – ohne die Tafel geht das nicht.“

Vielleicht ist das der Kern des Problems. Mittlerweile, ein Vierteljahrhundert nach der Gründung, hat sich das System Tafel etabliert. Mit Sponsorengeldern groß gemacht, ausgerüstet mit professioneller Logistik bis hin zur eigenen Kühlfahrzeug-Flotte. Es ist unverzichtbar geworden.

Ein paar Zahlen: Etwa 100.000 Tonnen Lebensmittel verteilen Tafeln pro Jahr. Dafür engagieren sich rund 60.000 Ehrenamtler. Etwa 40 Prozent der Kunden beziehen Hartz IV oder Leistungen der Arbeitsförderung. Fast jeder Fünfte erhält die ergänzende Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsminderung. Jeder Vierte ist Asylbewerber, trotzdem stellen Deutsche die größte Gruppe.

Und alle haben eins gemeinsam: Sie kommen ohne die Tafel nicht mehr klar. Heißt: Die Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass 1,5 Millionen Menschen Zugang zu einigermaßen frischen Lebensmitteln haben, übernimmt nicht der Staat.

„Diese Aufgabe hat er delegiert. An eine Armee aus freiwilligen Helfern“, kritisiert der renommierte Armutsforscher Professor Stefan Selke von der Uni Furtwangen im Schwarzwald. Für ihn ist das ein Skandal. Er sagt: „Natürlich helfen die Tafeln den Betroffenen, keine Frage. Aber sie beseitigen die Armut nicht.“ Anstatt Armuts-Ursachen zu bekämpfen, linderten Tafeln nur die Symptome. „Tafeln sind der Pannendienst unserer Gesellschaft.“

Selke gilt als Tafel-Experte, ist Autor vieler Bücher zum Thema. Er geißelt deren „soziale Platzanweiserfunktion“. Einkommensschwache würden mit Resten aus dem ersten Konsumentenmarkt abgespeist. „Das wertet Menschen massiv ab, das kann kein Austeiler weglächeln, nicht mit noch so viel Herzlichkeit.“

Zudem seien die Tafeln nicht zwingend dort besonders aktiv, wo Hilfe am meisten gebraucht werde. Sondern auffallend oft in wirtschaftlich starken Regionen (siehe Grafik). „Tafeln gründen sich da, wo es Menschen gibt, die die Kompetenzen dafür haben, die Ressourcen und Netzwerke.“

Und wo es genug Großspender und Supermärkte gibt. Die nämlich profitieren ebenfalls vom System. Weil jene Lebensmittel, die Tafelmitarbeiter vor der Tonne retten, sonst teuer als Sondermüll entsorgt werden müssten. Und auch die Tafeltüten-Aktion eines Großsponsors aus der Einzelhandels-Branche entpuppt sich bei Lichte betrachtet eher als geschickter Schachzug zur Umsatzsteigerung denn als reine Wohltätigkeit.

Ein Unternehmen der Armutsindustrie

Für 5 Euro können Kunden dort Tüten für die Tafeln spenden. Darin: Nudeln, Schokolade, Marmelade. Von der Eigenmarke des Handelskonzerns. Regulärer Ladenpreis des Inhalts: 5,24 Euro.

Laut Selke sind die Tafeln zuletzt immer mehr zu einem „Unternehmen der Armutsindustrie“ geworden. „Sie handeln wachstumsorientiert, haben sich als Marke schützen lassen und verteidigen diese vor Gericht.“ Sie verkauften das gute Gefühl, dass es gar nicht so schlimm ist mit der Armut. Und: „Die Tafeln wollen auch gebraucht werden.“

Was, wenn genau das nicht mehr der Fall wäre? Wenn der Hartz-IV-Regelsatz, der am 1. Januar auf 416 Euro gestiegen ist, noch etwas höher läge und die Menschen besser für sich selber sorgen könnten? In Weilheim reißt eine Tafel-Ehrenamtlerin da erschrocken die Augen auf: „Da würde mir was fehlen, das wäre ja schlimm.“

Gerhard D., die Rentnerin, die alleinerziehende Mutter – alle werden sie nächste Woche wieder in der Schlange stehen. Wie sie das finden, fragt niemand.