Leuna/Berlin. Er ist erst wenige Monate im Unternehmen, doch Raik Schimmang hat die Sicherheitsphilosophie seines Arbeitgebers schon voll verinnerlicht. Beim Treppensteigen hat er die Hände am Geländer, er trägt Helm, Schutzbrille, Handschuhe und Sicherheitsschuhe. Denn Arbeitsschutz wird bei Arkema großgeschrieben.

Das Unternehmen stellt im Chemiepark Leuna Wasserstoffperoxid her, eine ätzende Chemikalie, die von Papier- und Zellstoffherstellern als Bleichmittel eingesetzt wird. Dennoch ist der Betrieb in Sachsen-Anhalt einer der sichersten in Deutschland. „Wir sind 6.017 Tage unfallfrei“, verkündete eine Anzeigetafel am Werktor, als AKTIV Anfang März dort war. Das sind 16,5 Jahre ohne Arbeitsunfall.

Mit der makellosen Bilanz ist der Chemiebetrieb kein Einzelfall. „Die Arbeit wird immer sicherer“, sagt Walter Eichendorf, Vizechef der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung in Berlin. „Und die Unternehmen tun eine Menge, damit noch weniger Unfälle passieren.“

„Vision Zero“ heißt das ehrgeizige Ziel

Die Fortschritte beim Arbeitsschutz sind beeindruckend. Obwohl die Zahl der Erwerbstätigen steigt, passieren immer weniger Arbeitsunfälle (siehe Grafik). Deutlich zeigt das die charakteristische Kennziffer für die Arbeitssicherheit, die Zahl der Unfälle je 1.000 Vollarbeiter. Sie hat sich seit 1995 um die Hälfte auf zuletzt 22,95 verringert.

Auch im ersten Halbjahr 2017 nahm die Zahl der Unglücke im Job weiter ab, um knapp 1.600 auf 433.000. Allerdings stieg im Vergleich zu den ersten sechs Monaten des Vorjahrs die Zahl der tödlichen Unfälle auf 223. „Das kann uns nicht zufriedenstellen“, sagt Eichendorf. „Jeder Todesfall ist einer zu viel.“

Der Experte ist überzeugt, dass sich die Unfallquoten „noch kräftig senken“ lassen. Betriebe wie die Arkema zeigen: „Es geht besser.“ Das Ziel müsse eine Welt ohne Unfälle, Tote und Verletzte am Arbeitsplatz sein. „Vision Zero“, null Unfälle, heißt das ehrgeizige Ideal.

Immer mehr Betriebe streben das an, der Alu-Hersteller Trimet, die Bergbaufirma K+S, der Standortbetreiber Infraserv in Frankfurt oder der Chemiekonzern Evonik. Und die ganze Branche. Der Bundesarbeitgeberverband Chemie, die Gewerkschaft IG BCE und die Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie (BG RCI) in Heidelberg haben dafür 2015 eine Kooperation vereinbart.

Das Risiko eines tödlichen Unfalls ist im Alter von 45 bis 54 Jahren am höchsten

Sie haben sich für 2024 folgende konkrete Ziele gesetzt: Die Unfallquote je 1.000 Vollarbeiter soll bis dahin um 30 Prozent sinken, die Zahl neuer Rentenfälle und die tödlicher Unglücke um die Hälfte abnehmen.

Damit die Vorbeugung gezielter wird, analysieren Experten der Berufsgenossenschaft Unfallschwerpunkte. So nahmen sie 327 tödliche Arbeitsunfälle von 2004 bis 2016 noch mal genau unter die Lupe. Helmut Ehnes, Leiter der Prävention bei der BG RCI: „Heraus kam, dass das Risiko im Alter von 45 bis 54 Jahren am höchsten ist. Durch Routine geht bei manchem älteren Mitarbeiter der Respekt vor den Gefahren verloren.“ Zwölf Lebensretter-Regeln benennen nun die Hauptrisiken, Kernmotto: „Erst überlegen. Dann arbeiten. Aber sicher!“

Das fange bei der Planung von Anlagen an, so Ehnes: „Man muss den Arbeitsschutz gleich mit bedenken.“ Wie beim Werk von Arkema, in das Erfahrungen aus Jahrzehnten der Wasserstoffperoxid-Produktion einflossen. Notfalleinrichtungen wie Sprinkleranlagen oder Notduschen sind auf dem Stand der Technik. „Zudem sind alle Abläufe so gestaltet, dass sie sicher zu handhaben sind“, erklärt Clelia Birkigt, Leiterin Arbeits-, Gesundheits- und Umweltschutz bei Arkema.

Beinahe-Unfälle helfen, echte zu vermeiden

Dazu soll auch die Gefährdungsbeurteilung beitragen, die das Gesetz für jeden Betrieb vorschreibt. Betriebsleiter und Sicherheitsexperte erfassen dafür alle Arbeitsschritte, ermitteln Risiken, legen Schutzmaßnahmen und Verhaltensregeln fest. Bei Bayer Pharma in Berlin hat man dafür auch die Beschäftigten interviewt. So entstanden kurze Merkblätter, die mit Fotos zeigen, worauf es ankommt.

Die Mitarbeiter zu beteiligen, steigere deren Motivation, sagt BG-RCI-Experte Ehnes. Zudem müssten Vorgesetzte Sicherheitsbewusstsein vorleben. „Und die Teams sollten Beinahe-Unfälle besprechen, um echte zu vermeiden. Nur mit so einer Sicherheitskultur erreicht ein Betrieb ein höheres Niveau.“

Einen besonderen Ansatz verfolgt man bei Arkema. Klar hat dort jeder Beschäftigte zu Beginn einer Arbeit die Sicherheitsvorschriften im Blick, er schaut aber auch auf seinen Nebenmann. Im Zweifel macht er den Kollegen auf gefahrenträchtiges Arbeiten aufmerksam. Das nimmt keiner krumm. Regelmäßige Schulungen und Trainings tun ein Übriges. So wird die „Vision Zero“ zur gelebten Praxis.

Bilanz kann sich sehen lassen

Quer durch alle Wirtschaftszweige passiert immer weniger, obwohl immer mehr Menschen im Berufsleben stehen: Von 1995 bis 2016 stieg die Zahl der Erwerbstätigen um fast 15 Prozent auf 43,5 Millionen, doch die Zahl der Arbeits-, Wege- und tödlichen Unfälle ging kräftig zurück.

Wenn etwas passiert, dient die Gesetzliche Unfallversicherung als Haftpflichtversicherung für die Betriebe. Diese entrichten daher sämtliche Beiträge. Träger sind in der gewerblichen Wirtschaft neun Berufsgenossenschaften. Sie sorgen für Behandlung und Reha, zahlen Verletztengeld oder Rente.