Brüssel. Wenn der EU eines gewiss ist, dann der Zorn der Bürger. So wie zuletzt wieder in Athen: Jugendliche demonstrierten gegen das „Spardiktat aus Brüssel“ und Einschnitte ins Bildungssystem Griechenlands.
Europa steht ordentlich unter Druck. Dramatische Arbeitslosenzahlen im Süden, Populisten an der Macht in östlichen Mitgliedsstaaten. Und auch in Deutschland hat nur noch jeder Dritte ein positives Bild von der Europäischen Union. Jahrzehnte des Friedens, Bewegungsfreiheit und freier Warenverkehr – all das scheint in Vergessenheit zu geraten.
Es gilt, ideologische Gräben zu überwinden
Dabei stemmt die Staatengemeinschaft gerade ein gigantisches Projekt. „Arbeitsplätze, Wachstum und Demokratie“ hat sie sich auf die Europa-Fahne geschrieben. Ein Ziel, an dem nicht nur EU-Kommission und -Parlament arbeiten. Auch die Sozialpartner spielen eine entscheidende Rolle.
Dazu muss man wissen: Nach den Regeln der EU-Verträge können in Brüssel Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam die Rahmenbedingungen für den Arbeitsmarkt festlegen. „Im Sozialen Dialog verhandeln wir über EU-weite Mindeststandards und Rahmenbedingungen für den Arbeitsmarkt“, erklärt Antje Gerstein, Büroleiterin des Arbeitgeberdachverbands BDA in Brüssel. „Und beim Thema Beschäftigung kommt da im Moment mächtig Fahrt auf.“
Es geht unter anderem um flexible Arbeitszeitmodelle, Weiterbildung und wie man Ältere länger im Job hält. „Natürlich gilt es da immer wieder, ideologische Gräben zu überwinden“, so Gerstein. „Aber das Instrument des Sozialen Dialogs ist beiden Seiten sehr wichtig. Und es gibt das gemeinsame Interesse, dass in den Krisenstaaten jetzt mehr Arbeitsplätze entstehen.“
In ihren Marathonsitzungen mit bis zu 80 Teilnehmern plus Simultandolmetschern üben beide Seiten mächtig Einfluss aus. „Arbeitgeber und Gewerkschaften gestalten auf diese Weise in der EU mit, das ist gelebte Sozialpartnerschaft“, sagt Brüssel-Insiderin Gerstein. „Nur formal stimmen EU-Kommission, EU-Parlament und am Ende die Mitgliedsstaaten noch zu.“
Lange Zeit ging es vor allem darum, wie man neue Mitgliedsstaaten am besten an EU-Standards heranführt. Eben durch Mindeststandards, die freilich in Deutschland oft übertroffen werden. Doch vor allem die Job-Misere in Südeuropa, die Gefahr einer „verlorenen Generation“ (siehe Grafik), schafft neue Prioritäten.
Den Jugendlichen zeigen, dass sie dazugehören
Wenn sich die Rahmenbedingungen am Arbeitsmarkt verbessern, dann lässt sich auch mit öffentlichen Geldspritzen mehr erreichen. „Die Förderprojekte im Rahmen des Europäischen Sozialfonds beginnen zu wirken“, beobachtet der deutsche Arbeitsmarktpolitiker Thomas Mann, Mitglied des EU-Parlaments.
Mit 80 Milliarden Euro stattete die EU-Kommission diesen Fördertopf bei ihrem Amtsantritt 2014 aus, verteilt bis 2020. Geld, das anfangs scheinbar niemand wollte. Anfordern müssen es nämlich die Kommunen oder regionale Arbeitsagenturen und dabei etwa in Kooperation mit Schulen oder Betrieben sinnvolle Angebote erstellen. Nicht gerade leicht, wenn die Wirtschaft am Boden ist.
Dass sich da mittlerweile was tut, liegt auch an deutschen Unternehmen, die etwa in Spanien produzieren. „Sie haben sich zum Teil mit örtlichen Zulieferern zusammengeschlossen, um eine überbetriebliche Ausbildung aufzubauen“, berichtet Mann. Vorbild ist die duale Ausbildung in Betrieb und Berufsschule wie in Deutschland. „Das schafft die praktische Voraussetzung für einen Einstieg ins Berufsleben“, so der EU-Parlamentarier.
Für ihn ist es der beste Beitrag im Kampf gegen Populismus, dass die Jugendarbeitslosigkeit im Süden zuletzt leicht zurückgegangen ist. Bei der Förderung über den Europäischen Sozialfonds gehe es ja nicht nur um Jobs. „Es geht um einen europäischen Mehrwert. Wir zeigen den Jugendlichen, dass sie dazugehören.“
Bei einem wichtigen Thema allerdings ist der Soziale Dialog bislang nicht ins Ziel gekommen: der Entsenderichtlinie. Sie ermöglicht Firmen vor allem aus osteuropäischen Mitgliedsstaaten, ihre Leute zu heimischen Löhnen in anderen EU-Ländern einzusetzen, vor allem auf Baustellen. Ob das auch künftig möglich sein soll, darüber wird in Brüssel schon seit drei Jahren gestritten.
Thomas Mann, der im Beschäftigungsausschuss des Parlaments sitzt, erwartet für das Frühjahr 2017 eine Einigung. „Brüssel sollte nichts beschließen, was der nationalen Tarifautonomie in die Parade fährt.“ Auch in Polen liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 28 Prozent.
So funktioniert der Soziale Dialog

- Im Maastrichter EU-Vertrag von 1993 wurde festgelegt, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften die Richtlinien für den Arbeitsmarkt erarbeiten.
- Die EU-Kommission unter ihrem Vorsitzenden Jean-Claude Juncker bringt diese Richtlinien dann auf den Weg. EU-Parlament und Mitgliedsstaaten müssen zustimmen.
- Nur wenn sich die Sozialpartner nicht einigen, werden Kommission und Parlament selbst aktiv.
Es geht auch ums Kindergeld

EU will Freizügigkeit – aber nicht als Sozialtourismus
Brüssel/Berlin. Europas Großprojekt, für mehr Beschäftigung in allen Mitgliedsstaaten zu sorgen, berührt auch die sozialen Sicherungssysteme. Und damit ein Thema, das in Deutschland zu aufgeregten Debatten führt – der Bezug von Transferleistungen durch Bürger aus anderen EU-Staaten.
Die Freizügigkeit für Arbeitnehmer ist ein Kernelement des Binnenmarkts. Doch um falsche Anreize zu verhindern, will die EU-Kommission jetzt klare Regeln schaffen. Sie orientiert sich unter anderem an einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs: Er gab dem Staat Luxemburg recht, der einem EU-Ausländer das Kindergeld für die noch im Heimatland lebenden Kinder nicht in voller Höhe auszahlen wollte. Es sei in Ordnung, dass es auf das Niveau des Heimatlands reduziert werde. Das Urteil soll in eine Verordnung einfließen, die jeder EU-Mitgliedsstaat anwenden kann.
Gestützt auf EU-Recht will Deutschland zudem EU-Ausländern Sozialhilfe erst nach fünf Jahren gewähren.