Frankfurt/Berlin. 1918 – ein Schicksalsjahr von historischem Ausmaß. Der Erste Weltkrieg geht zu Ende, der deutsche Kaiser hat abgedankt, auch andere Monarchen steigen vom Thron. Diese turbulente Zeit bringt hierzulande Demokratie und Republik. Und in der Industrie legen Arbeitgeber und Arbeitnehmer den Grundstein für eine gemeinsame Erfolgsgeschichte, die bis heute trägt.
Im Novemver 1918 nämlich wurde, unter maßgeblicher Beteiligung der Metall-Arbeitgeber, das „Stinnes-Legien-Abkommen“ unterzeichnet: benannt nach dem Industriellen Hugo Stinnes und dem Gewerkschaftsfunktionär Carl Legien. Das war die Geburtsstunde der Tarifautonomie, einer tragenden Säule der Sozialen Marktwirtschaft.
Hintergrund: Unternehmen drohte damals sogar die Verstaatlichung von Produktionsmitteln! Betriebe und Arbeitnehmer wollten den Staat zurückdrängen – und Ordnung ins Wirtschafts- und Arbeitsleben bringen.
Mit dem Abkommen erkannten die Unternehmer die Gewerkschaften als berufene Vertretung der Arbeiterschaft und als gleichberechtigte Tarifpartner an. Dafür bekamen sie mehr Planungssicherheit und Stabilität. Und die Chance, die Arbeitsbedingungen branchenspezifisch zu regeln.
Beide Sozialpartner wissen: Die Tariflöhne stiegen zuletzt stärker als die Arbeitsproduktivität
Tarifverträge breiteten sich in der Folge rasant aus: Sie erfassten Ende 1918 erst 1,1 Millionen Beschäftigte, vier Jahre später waren es schon 14 Millionen! Heute ist die Tarifautonomie im Grundgesetz verankert und bedeutet: Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften haben das Recht, Löhne und Arbeitsbedingungen ohne den Staat zu regeln.
Das Prinzip gilt als Stärke des deutschen Arbeitsmarkts, hat es sich doch auch in schlechten Zeiten bewährt: So schnürten die Tarifpartner der Metall- und Elektro-Industrie (M+E) 2010 ein Krisenpaket zur Beschäftigungssicherung, mit dem die hiesige Wirtschaft viel schneller wieder auf die Beine kam als die Konkurrenz in anderen Ländern.
Dirk Pollert, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Hessenmetall: „Wir können stolz sein auf 100 Jahre gemeinsame Erfolgsgeschichte, aber wir müssen auch alles tun, damit es weitere 100 Jahre eine Erfolgsgeschichte bleibt.“ Denn die Herausforderungen, die bewältigt werden müssen, sind enorm. Neue Mobilitätstrends und vier parallel laufende Antriebskonzepte (Benziner, Dieselmotoren, batterie- oder brennstoffzellenbetriebene Elektromobile) fordern die Unternehmen der hessischen M+E-Industrie heraus. Zudem müssen sich die Betriebe für die digitale Transformation fit machen. Sie müssen in neue Technologien ebenso investieren wie in die Qualifizierung der Mitarbeiter.
„Es werden erhebliche Summen sein, die der anstehende Strukturwandel kosten wird“, ist Pollert überzeugt. „Und auch das können nur beide Seiten stemmen, eben Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam.“
Auch hier sind die Tarifparteien gefragt:
Wichtiger Input in vielen Bereichen von Wirtschaft und Politik
Berlin/Frankfurt. Die Aufgaben der Tarifpartner in der Sozialen Marktwirtschaft sind vielfältig und gehen weit über die Entgeltfindung hinaus: Auch in vielen anderen Bereichen des Wirtschafts- und Arbeitslebens finden Vertreter von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gemeinsam ideale Lösungen. Hier ein paar Beispiele.
- Rente. Im Jahr 2001 gründeten die Tarifpartner der Metall- und Elektro-Industrie das Versorgungswerk MetallRente, das sich bis heute mit aktuell rund 700.000 Versicherten zum größten branchenübergreifenden industriellen Versorgungswerk in Deutschland entwickelt hat. Auch bei der neuen Rentenkommission sind Vertreter von Gewerkschaften und Arbeitgebern im Boot: Diese Kommission soll im Auftrag der Bundesregierung Vorschläge erarbeiten, wie die gesetzliche Rente gesichert und fortentwickelt werden kann.
- Arbeitsgericht. Auch hier spielen die Sozialpartner eine wichtige Rolle: Es urteilen grundsätzlich drei Richter gemeinsam – ein Berufsrichter und je ein ehrenamtlicher Richter aus den Reihen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer.
- Ausbildung. Hier modernisieren die Tarifpartner gemeinsam die Berufsbilder und machen sie so zukunftsfest. Seit August gibt es in der M+E-Branche neue Lehrinhalte zum Thema Digitalisierung. Denn um keine Zeit zu verlieren, haben die Sozialpartner extra ein schnelles Verfahren zur Novellierung der Ausbildungsberufe entwickelt.
- Digitalisierung. Wie sie die Wirtschaft verändert, damit kennen sich die Tarifpartner sehr gut aus. Bereits 2016 diskutierten beispielsweise auf dem gemeinsamen Zukunftskongress von Arbeitgeberverband Hessenmetall und IG Metall 200 Unternehmer und Betriebsräte Chancen und Risiken der digitalen Revolution. „Gemeinsam mit der Politik wollen wir die richtigen Rahmenbedingungen schaffen, um die Chancen für den Standort bestmöglich zu nutzen“, so Jörg Köhlinger, Bezirksleiter IG Metall Mitte, und Hessenmetall-Vorsitzender Wolf Matthias Mang.
Gelebte Tarifpartnerschaft in Hessen:
Faires Geben und Nehmen
Frankfurt. Am 29. Oktober 1947 wurde in Frankfurt der Arbeitgeberverband der hessischen Metall-Industrie gegründet. Oberstes Ziel: die Regelung von Beschäftigungsbedingungen durch Tarifverträge mit den Gewerkschaften und die Erhaltung des Arbeitsfriedens. „Dazu bestand aller Anlass, denn der erste größere Streik der Branche nach dem Krieg fand 1951 in Hessen statt“, so Dirk Pollert, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Hessenmetall.
In den 50er Jahren folgen die Einkommen dem Wirtschaftswunder. Und bis 1967 sinkt die Wochenarbeitszeit von 48 auf 40 Stunden, auf fünf Tage verteilt. Die Boomphase der 70er endet mit dem Anspruch auf sechs Wochen Urlaub für alle.
Die 80er Jahre bringen die Wende. Die Arbeitslosigkeit steigt, denn Arbeit ist in Deutschland teuer geworden. Löhne und Lohnnebenkosten sind hoch, und Billigimporte drängen auf den deutschen Markt. 1984 beginnt ein harter Arbeitskampf, derweil die Betriebe rationalisieren, modernisieren und automatisieren. Mit Erbitterung wird gefochten.
Der jüngste Tarifabschluss gilt schon jetzt als Meilenstein
Während Arbeitgeber mehr Flexibilität möchten, fordert die IG Metall die 35-Stunden-Woche. „Die kommt nach sieben Monaten Tarifkonflikt und 1,373 Millionen ausgefallenen Arbeitstagen allein in Hessen – doch sie wird nie gesellschaftlicher Konsens“, betont Pollert.
In den Jahren darauf beginnt eine Flexibilisierungsoffensive, die Deutschland zum „Flexi-Weltmeister“ machte. „Und es gelingt die schrittweise Öffnung des Flächentarifvertrags für mehr betriebliche Lösungen, eine Basis für viele weitere Varianten, die den Unternehmen dringend notwendigen Spielraum geben“, so Thomas Brunn, Verhandlungsführer von Hessenmetall.
Als bahnbrechend gilt unter anderem der „Pforzheimer Abschluss“ von 2004, der Abweichungen vom Tarifvertrag zur Zukunftssicherung von Betrieben ermöglicht. Im gleichen Jahr wird das Entgeltrahmenabkommen (ERA) unterzeichnet.
Und auch der jüngste Tarifabschluss 2018 enthält etliche neue Spielregeln unter anderem für die Arbeitszeit. Brunn: „Es ist uns gelungen, die Belastung durch die arbeitnehmerfreundliche Senkung der Arbeitszeit aufzufangen durch eine Ausdehnung des Arbeitszeitvolumens, und wir haben eine Differenzierungsoption für Betriebe, denen es nicht so gut geht.“