Stuttgart. Die Entscheidung war ein Paukenschlag. Großbritanniens Premierministerin Theresa May hat kürzlich grünes Licht für ein neues Kernkraftwerk gegeben. Im Südwesten Großbritanniens, beim Kraftwerk Hinkley Point, sollen für 21 Milliarden Euro zwei neue Reaktoren gebaut werden. Ab 2025 werden allein sie 7 Prozent des britischen Stroms liefern. Im Gegenzug will das Königreich Kohleblöcke stilllegen, um den Ausstoß von Klimagas zu verringern.

Die britische Energiepolitik ist kein Einzelbeispiel. Fünf Jahre nach der Katastrophe im japanischen Fukushima setzen viele Länder auf Atomkraft. Während Deutschland die letzten acht Meiler wegen der Risiken bis 2022 abschalten will, gibt es weltweit enorme Bauvorhaben, wie die World Nuclear Association in London berichtet. Die Organisation der Kernenergie-Firmen zählt in der aktuellen Statistik von September rund 60 Reaktoren im Bau und 170 geplante Blöcke.

„Vor allem Länder in Asien, Osteuropa und dem Nahen Osten setzen auf neue Kernkraftwerke“, sagt Professor Jörg Starflinger, Leiter des Instituts für Kernenergetik und Energiesysteme der Uni Stuttgart. Sie versprechen sich davon eine verlässliche, jederzeit verfügbare Stromversorgung, die fast keine Klimagase ausstößt. „Natürlich“, so Starflinger, „brauchen sie ein Endlager für den radioaktiven Abfall.“ Vor allem China setzt auf die Nuklearenergie. „Da geht im Moment richtig die Post ab“, berichtet Starflinger. „Über 60 Kraftwerke sollen dort entstehen.“

Denn die Wirtschaft des Riesenreichs wächst um über 6 Prozent im Jahr. 1,4 Milliarden Chinesen benötigen Strom und leiden zugleich unter Luftverschmutzung sowie Smog durch die Kohlekraftwerke.

Um den Energiehunger zu stillen, den Dreck einzudämmen und etwas für den Klimaschutz zu tun, „investiert Peking stark in die Infrastruktur aller Energieträger – eben auch in Atomkraftwerke“, weiß Starflinger. Der Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung soll sich von heute 3 Prozent bis zum Ende des nächsten Jahrzehnts auf 10 Prozent verdreifachen.

Und die Kernenergie boomt in noch mehr Ländern, „überall da, wo eine große Bevölkerung Strom benötigt“, so Starflinger. Russland baut, Indien, Südkorea und Pakistan bauen. Auch Indonesien, die Türkei, Ägypten und Jordanien streben nach Atomenergie. Selbst Japan, das nach der Katastrophe alle Meiler abschaltete, errichtet neue.

Ein gigantisches Programm ist das. Experten der World Nuclear Association schätzen in ihrem neuesten Branchenreport die Investitionen in Kernkraftwerke bis zum Jahr 2035 auf 1,5 Billionen Dollar, also 1.500 Milliarden. Weitere 75 Milliarden Dollar werden die Energieversorger ausgeben, um ältere Blöcke auf dem Stand der Technik zu halten und mit neuerer, besserer Sicherheitstechnik auszustatten.

Es ist ein riesiger Kuchen, von dem die großen Kerntechnik-Konzerne ihre Stücke abbekommen wollen. Auch China und Russland mischen auf dem Markt mit. So bauen chinesische Firmen zwei Reaktoren in Pakistan, und die russische Rosatom will 2018 in Ungarn loslegen. Umgekehrt errichtet der französische Konzern Areva, der ebenso zu den Großen der Branche zählt, in China zwei neue Blöcke.

Von der Dynamik in Asien ist der Markt im westlichen Europa aber weit entfernt. Hier steht, wie etwa in Frankreich, die Verlängerung der Laufzeit alter Anlagen von 40 auf bis zu 60 Jahre auf der Agenda. Oder gar der völlige Ausstieg aus der Kernenergie, wie in Deutschland und Belgien.

Auftrag bringt Arbeit bis in 2020er-Jahre

Die kleine deutsche Kerntechnik-Branche hat dieser Beschluss in schwieriges Fahrwasser gebracht. Vor drei Jahren noch bot sie 35.000 Arbeitsplätze, mittlerweile haben die zwei Dutzend Unternehmen ziemlich abgespeckt.

Darum kam auch die deutsche Areva-Tochter mit Sitz in Erlangen nicht herum. Dort macht man jedoch aus der Not eine Tugend und setzt nun „voll auf das Auslandsgeschäft“, wie Firmenchef Carsten Haferkamp erklärt. „Hatten wir vor fünf Jahren erst rund 40 Prozent Exportanteil, so sind es heute bei einem ziemlich konstanten Umsatz von rund 1 Milliarde Euro schon 70 Prozent.“ Und bis hierzulande 2022 der letzte Meiler vom Netz geht, will das Unternehmen bei fast 100 Prozent sein.

Seine etwa 4.000 Mitarbeiter fertigen Brennelemente, Schaltschränke, Steuer-, Mess- und Sicherheitsanlagen, warten und halten Reaktoren in Europa und Südamerika instand. Ihre Sicherheitsleittechnik ist in Neubauten Chinas und Russlands ebenso gefragt wie beim Modernisieren älterer Meiler.

Und nun kommt die Beteiligung am Bau des neuen Kernkraftwerks in Großbritannien hinzu. Haferkamp: „Das bringt dem Konzern bis weit in die 2020er-Jahre Arbeit.“ Natürlich auch hierzulande.

Hans Joachim Wolter
aktiv-Redakteur

Hans Joachim Wolter schreibt bei aktiv vor allem über Klimaschutz, Energiewende, Umwelt, Produktinnovationen sowie die Pharma- und Chemie-Industrie. Der studierte Apotheker und Journalist begann bei der Tageszeitung „Rheinpfalz“ in Ludwigshafen und wechselte dann zu einem Chemie-Fachmagazin in Frankfurt. Wenn er nicht im Internet nach Fakten gräbt, entspannt er bei Jazz-Musik, Fußballübertragungen oder in Kunstausstellungen.

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