Reißzwecken aus Deutschland: Besuch bei einem winzigen Weltmarktführer
Arnsberg. Welches Land sollte wohl teure Technik produzieren, welches billige Massenware? Die klassische Antwort: Jedes sollte fertigen, was es vergleichsweise am besten kann – und freier Handel erhöht dann allseits den Wohlstand. Das hat schon vor gut 200 Jahren der britische Ökonom David Ricardo gezeigt.
Demnach ganz normal, dass im Hochlohnland Deutschland die T-Shirt-Herstellung keine große Rolle mehr spielt, während wissensintensive Hightech-Produkte „made in Germany“ weltweit gefragt sind. Wo also kommen Reißzwecken her? Wundersame Antwort: auch aus China, ja – aber vor allem aus dem Sauerland!
300 Markennamen für Arnsberger Ware
Offenbar bergen die Dinger mehr Know-how, als es scheint. Dass das wirklich so ist, zeigt ein Besuch bei der Arnsberger Firma Gottschalk. Ihr zentrales Produkt: Heftzwecken. Der 20-Mann-Betrieb produziert davon 12 Millionen Stück pro Tag (und dazu noch diverse andere Metallwaren). Zweieinhalb Milliarden Reißnägel im Jahr: Damit ist Gottschalk Weltmarktführer.
„Es gibt wohl nur noch einen anderen Hersteller, in China, und der ist meines Wissens kleiner als wir“, so Firmenchef Rolf Gottschalk. „Unsere Ware ist unter 300 Markennamen, darunter natürlich Herlitz, zu haben.“ Für diesen Erfolg gibt es zwei gute Gründe: die historische Entwicklung – und unternehmerisches Handeln.
Die Geschichte der Heftzwecke beginnt in Deutschland. Das Patent geht nach Brandenburg, anno 1904. Da ist Gottschalks Opa schon im Geschäft, bald nimmt er die Reißnägel ins Sortiment auf.
Nach den Entwürfen des Großvaters und des Vaters werden dann viele der ganz speziellen Maschinen gebaut: Eine formt zum Beispiel vollautomatisch Flachkopfklammern. Im Vergleich dazu sind Heftzwecken kleine Wunderwerke. Für sie sind mehrere raffinierte Maschinen nötig (die älteste läuft seit über 60 Jahren).
Video: aktiv zu Besuch bei einem winzigen Weltmarktführer
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Flexible Mitarbeiter
Diesen Startvorteil in Sachen Know-how und Anlagenpark müsste ein neuer Konkurrent erst einmal aufholen. Dazu kommt, dass die kleine Firma vier wichtige Erfolgsfaktoren beachtet hat.
- Spezialisierung: Als der Chef, studierter Betriebswirt, 1989 von einem Jachtbauer ins Familienunternehmen wechselte, „gab es noch etwa 20 Hersteller bei uns“. Gehalten hat sich nur einer. „Denn mein Vater hat voll auf diese Nische gesetzt – das war genau richtig.“ „Nur mit Fokus wird man Weltklasse“, bestätigt der Bonner Professor Hermann Simon, der an einer Neuauflage seines Buches über versteckte Weltmarktführer („Hidden Champions“) arbeitet. „Die Konzentration auf ein spezielles, enges Geschäft ist typisch für unsere erfolgreichen Mittelständler.“
- Flexibilität: Gottschalk ist stolz auf seine „Allround-Mitarbeiter“. „Praktisch jeder ist an jedem Arbeitsplatz einsetzbar.“ Auch in Sachen Arbeitszeit ist man flexibel: „Mal drei Tage von 6 bis 19 Uhr arbeiten und das dann zeitnah abfeiern – das können wir, wenn der Kundenwunsch es erfordert.“ Zeitliche und inhaltliche Flexibilität: Das ist laut Simon „ein sehr gutes Rezept insbesondere für kleinere Firmen, die so leichter auf Nachfrageschwankungen reagieren können“.
- Dienstleistung: Gottschalk liefert nicht nur selbst produzierte Metallwaren, er hilft seinen Kunden auch, wenn es etwa um Gummiringe geht: „Wir lösen die Probleme“, sagt er. „Diese Idee ist absolut richtig“, lobt Simon, „der Dienstleistungsgedanke rund ums Produkt herum hat ja für viele Industrie-Unternehmen schwer an Gewicht gewonnen.“
- Qualität: Sich den Stift der Zwecke in den Finger durchdrücken? Mit seiner Ware könne so etwas nicht passieren, versichert Gottschalk. Zum Vergleich zeigt er Zwecken aus China – und rümpft die Nase ... „Natürlich ist Qualität die Basis für Erfolg“, betont Simon. „An dieser Front müssen unsere Firmen aber höllisch aufpassen: Viele chinesische Produzenten verbessern sehr schnell die Qualität ihrer Ware.“
Ach ja – was verdient man eigentlich an einer Heftzwecke? Das verrät Gottschalk nicht. Im Laden jedenfalls kostet uns das praktische Ding, das wir auf eigene Faust kaum jemals fertigen könnten, keinen halben Cent. Falls Sie also mal jemandem erklären wollen, warum die industrielle Massenfertigung unseren Wohlstand so ungemein gemehrt hat: Nehmen Sie die Zwecke als Beispiel!