Düsseldorf/Duisburg. 11.000 schwere Lkws, 1.000 Müllautos und 3.800 Busse fahren mit null Emissionen durch NRW. Sie haben einen Brennstoffzellenantrieb und können landesweit an 200 Tankstellen Wasserstoff (H2) tanken. Die ersten Anlagen in Stahlunternehmen, Chemiefabriken und Zementwerken produzieren mit Wasserstoff anstelle von Koks oder Erdgas. Im Rheinischen Revier wird keine Braunkohle mehr gefördert, dafür Wasserstoff gewonnen. All das soll 2030 Wirklichkeit sein, so die ehrgeizigen Ziele der Landesregierung.

NRW-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart: „Konsequent eingesetzt, können wir mit Wasserstoff in Zukunft ein Viertel unserer heutigen Kohlendioxid-Emissionen einsparen. Auch wirtschaftlich erwarten wir einen Schub: Bis zu 130.000 zusätzliche Arbeitsplätze können in NRW entstehen.“

Das Land fördert bislang mehr als 130 Projekte mit insgesamt 150 Millionen Euro

Die Umstellung kostet allerdings viel Geld: Das Land hat bislang 150 Millionen Euro für über 130 Projekte in der Wasserstoff- und Brennzellentechnik zur Verfügung gestellt. Zehn Projekte davon sollen im Rahmen einer europäischen Wasserstoffallianz mit 1,7 Milliarden Euro gefördert werden. Außerdem investiert die nordrhein-westfälische Industrie Milliarden in den Energieträger von morgen.

10 Milliarden Euro investiert allein der Stahlkonzern Thyssenkrupp in die Energiewende

Es geht um viel. Nämlich darum, dass NRW und Deutschland bei dieser Schlüsseltechnologie nicht den Anschluss verlieren – weil China und jetzt auch die USA da mächtig aufs Tempo drücken. Der Kraftakt fürs Klima erfordert Elektrolysen, Brennstoffzellen, Drucktanks, Kompressoren, Gasturbinen, Pipelines und vieles mehr. Und das in großem Stil.

Wasserstoff wird aus Wasser mittels Elektrolyse gewonnen: Strom spaltet das H2O-Molekül in seine Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff. „Grün“ wird es aber erst, wenn Ökostrom dafür verwendet wird. RWE, Thyssenkrupp, Evonik und andere arbeiten bereits an neuen Produkten und Prozessen. Der Energieträger H2 erfordert aber ebenso neue Materialien und Maschinen: M+E-Firmen in NRW produzieren auch das.

Beispiel Brennstoffzelle: Darin werden Wasserstoff und Sauerstoff zusammengeführt. Die reaktionsfreudigen Gase verbinden sich explosionsartig zu Wasser und setzen Energie frei. Jede Brennstoffzelle hat zwei Kammern mit Stahlplatten an den Seiten. Durch ihre hauchfeinen Kanäle werden die Gase kontrolliert ein- oder abgelassen. Das Unternehmen Wälzholz aus Hagen beliefert die Hersteller von Brennstoffzellen mit hochwertigen, sehr reinen Präzisionsbandstählen für diese sogenannten Bipolarplatten.

Das Gas ist extrem flüchtig – eine Herausforderung

Ein Fahrzeug benötigt mehr als 400 Brennstoffzellen und hat nur wenig Platz. „Wir sind in der Lage, für diese Anwendung extrem dünne rostfreie Präzisionsbandstähle herzustellen“, so Werkstoffingenieur Jan Ullosat von Wälzholz. Die Stahlbleche sind so dick wie ein menschliches Haar, gleichzeitig formstabil und strapazierfähig, um den Erschütterungen und Schwingungen beim Fahren standzuhalten.

Beispiel Lagerung und Transport: Unter Druck komprimiert, lässt sich Wasserstoff per Schiff, Lastwagen oder Pipeline transportieren. Wystrach aus Weeze und Vako aus Kreuztal haben die Expertise, dickwandige Hochdruck-Behälter aus Stahl zu bauen. Das äußerst flüchtige Gas stellt höchste Anforderungen an die Qualität der Schweißnähte. Die Behälter werden an stationären und mobilen Tankstellen und auf wasserstoffbetriebenen Zügen eingesetzt. Tanks von Lkws, Baumaschinen und von Autos mit Brennstoffzelle müssen dagegen leicht sein: Nproxx aus Jülich stellt sie aus Carbonfasern her. Vorher muss das Gas aber verdichtet werden: Die Kompressoren von Neuman & Esser (NEA) setzen es bis zu 900 Bar unter Druck. Der Produzent aus Übach-Palenberg beliefert Raffinerien und H2-Tankstellen.

Für die Wasserstoff-Technologie nimmt allein Thyssenkrupp rund 10 Milliarden Euro in die Hand – Stichwort „grüner Stahl“. In der ersten Projektphase, die Anfang des Jahres erfolgreich abgeschlossen wurde, untersuchte der Konzern, wie Roheisen im Hochofen mithilfe von Wasserstoff statt Kohlenstaub hergestellt werden kann – und zwar in einem der 28 Blasformen des „Hochofens 9“ am Standort Duisburg. Dabei stand die innovative Technik im Mittelpunkt des Interesses. Jede Tonne Wasserstoff spart in der Stahlproduktion 26 Tonnen der klimaschädlichen Kohlendioxids ein.

2022 wird der Versuch auf alle Blasformen ausgeweitet, um den Einfluss von Wasserstoff auf die metallurgischen Prozesse im Hochofen zu erforschen. Darauf folgt, so Arnd Köfler, Produktionsvorstand von Thyssenkrupp Steel, „der nächste entscheidende Schritt zur Klimaneutralität“. Die konventionellen Hochöfen werden durch Anlagen ersetzt, die komplett ohne Kohle betrieben werden können. Der erste „Hochofen 2.0.“ soll 2024 in Betrieb gehen. Bis 2050 sollen alle vier Hochöfen den Direktreduktionsanlagen, wie die neue Technik heißt, nach und nach Platz machen.

Nachfrage nach Wasserstoff wird explodieren

Dadurch steigt der Bedarf an grünem Wasserstoff: Für die erste Versuchsreihe am Hochofen wurden die Gasmengen noch per Lkw angeliefert, für die zweite ist schon eine Pipeline nötig. „Wir brauchen diesen Wasserstoff in ausreichenden Mengen und zu wettbewerbsfähigen Preisen. Entsprechend muss der Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft und der Ausbau erneuerbarer Energien forciert werden“, teilt der Konzern mit.

Schon in den nächsten Jahren braucht das Unternehmen 20.000 Tonnen grünen Wasserstoff pro Jahr. Bis 2050 werden es 720.000 Tonnen sein. Immerhin: Einen Teil davon wird die Elektrolyse liefern, die Thyssenkrupp zusammen mit dem Essener Energieversorger Steag in der Nähe des Stahlwerks bauen will.

Die Farben des Wasserstoffs

Gibt es wirklich grauen, grünen oder blauen Wasserstoff? Nein, das Gas (H2) ist absolut farblos, aber die Herstellungsverfahren unterscheiden sich.

  • Grüner Wasserstoff … wird ausschließlich mit erneuerbarer Energie gewonnen. In der Regel bedeutet das, dass Wasser per Elektrolyse mit Strom aus Wind- oder Solaranlagen in Wasserstoff und Sauerstoff aufgespalten wird.
  • Blauer Wasserstoff … liegt dann vor, wenn das bei der H2-Herstellung freigesetzte CO2 industriell genutzt oder deponiert wird, etwa in unterirdischen Kavernen.
  • Türkiser Wasserstoff … entsteht, wenn über ein thermochemisches Verfahren Methan in Wasserstoff und festen Kohlenstoff aufgespalten wird. Dieser Kohlenstoff kann gebunden oder weiterverwendet werden.
  • Grauer Wasserstoff … wird mithilfe fossiler Energieträger hergestellt. Dabei wird Erdgas in Wasserstoff und Kohlendioxid (CO2 ) aufgespalten. Das freigesetzte CO2 wird meist als Abgas in die Atmosphäre geleitet. Eine andere Variante ist die Elektrolyse mit Strom aus konventionellen Kraftwerken.
  • Weißer Wasserstoff … ist das H2, das als Abfallprodukt von chemischen Verfahren anfällt.
  • Brauner Wasserstoff … entsteht aus der Vergasung von Kohle.
  • Roter Wasserstoff … wird mit Strom aus Atomkraftwerken gewonnen.

So wollen Land und Wirtschaft die Energie-Wende voranbringen

Düsseldorf. Die Energiewende soll mit Wasserstoff forciert werden. Und so soll sie gelingen:

  • Aufbau internationaler Partnerschaften. NRW muss vier Fünftel seines Wasserstoffbedarfs aus anderen Bundesländern und dem Ausland importieren. Für den internationalen Handel werden Zertifizierungs- und Herkunftsnachweissysteme gebraucht, etwa um festzustellen, ob das Gas mit Öko-Energie erzeugt wurde.
  • Infrastruktur. Wegen seiner zentralen Lage kann NRW zu einem Drehkreuz des Wasserstoff-Umschlags und -Transits werden. Dafür muss die bestehende Infrastruktur angepasst und ausgebaut werden.
    Die Stromnetze sollen mit dem enormen Energiebedarf der Elektrolyse und mit der Stromerzeugung aus Wasserstoff klarkommen, die Turbinen, Kraftwerke und Speicher für Erdgas wiederum auch mit Wasserstoff funktionieren. Mit der Einstellung der Erdgasförderung in den Niederlanden (L-Gas) wird ein Teil des Netzes für den Wasserstoff frei: Die Pipelines können umgerüstet werden. Bereits heute verfügt NRW über die längste Wasserstoffpipeline (240 Kilometer zwischen Castrop-Rauxel und Dormagen) bundesweit sowie Verladekapazitäten im Duisburger Hafen.
  • Forschung und Innovation: Das Land will unter anderem neue und bestehende Forschungseinrichtungen unterstützen, Wasserstoff-Start-ups fördern und ein Betriebsforschungszentrum für neuartige industrielle Elektrolysetechnologien im Ruhrgebiet aufbauen.
  • Investitionsanreize. Die Initiative „Aufbruch in die Zukunft“ des Unternehmensverbands der NRW-Wirtschaft will Investitionen von 4 Milliarden Euro anstoßen. Erforderlich sei ein intelligenter Mix aus staatlichen Instrumenten und privatwirtschaftlichem Engagement. Die Initiative regt außerdem die Gründung eines NRW-Wasserstofffonds an
  • Übergangslösungen. Zeitlich begrenzt soll auch nicht klimaneutraler Wasserstoff zum Einsatz kommen.
Matilda Jordanova-Duda
Autorin

Matilda Jordanova-Duda schreibt für aktiv Betriebsreportagen und Mitarbeiterporträts. Ihre Lieblingsthemen sind Innovationen und die Energiewende. Sie hat Journalismus studiert und arbeitet als freie Autorin für mehrere Print- und Online-Medien, war auch schon beim Radio. Privat findet man sie beim Lesen, Stricken oder Heilkräuter-Sammeln.

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