Spielend Stapler fahren lernen? Bitte sehr! Einfach auf dem Simulator Platz nehmen, VR-Brille aufgesetzt und los geht’s. Der Intralogistik-Spezialist Jungheinrich schult Kundendiensttechniker und Staplerfahrer seit Kurzem mit VR-Anwendungen, die kaum noch Fragen offenlassen.

Der Simulator bietet originalgetreue Bedienungselemente und ist auf einer vierachsigen Bewegungsplatte angebracht, sodass Fahrzeugbewegungen realistisch nachempfunden werden. 3-D-Sound sorgt für eine absolut echte Geräuschkulisse, und sogar Fahrtwind kann simuliert werden.

Auszeichnung für Jungheinrichs Stapler-Simulator

Die Vorteile liegen auf der Hand: Aktionen können völlig gefahrlos durchgeführt werden, und der Simulator spart Kosten, Platz und Zeit. Das überzeugte auch den Kundendienstverband Deutschland, er zeichnete Jungheinrichs Stapler-Simulator im Jahr 2019 mit seinem „Service-Management-Preis“ aus.

Das schleswig-holsteinische Unternehmen HellermannTyton bietet seinen Kunden ebenfalls schon seit einiger Zeit virtuelle Ausflüge in die Welt seiner Produkte an. Der in Tornesch beheimatete Weltmarktführer für Kabelmanagement-Systeme mit etwa 6.000 Angestellten rund um den Globus fertigt Produkte zum Bündeln, Befestigen, Schützen, Kennzeichnen und Verarbeiten von Kabeln.

Produkte und Lösungen werden für den Kunden erlebbar

Zum Einsatz kommen diese Produkte nicht nur in Schienenfahrzeugen, Flugzeugen und Autos, sondern auch in Windkraftanlagen. Die werden immer leistungsfähiger und immer höher – deshalb macht VR hier unbedingt Sinn. Wer nicht selbst in schwindelerregende Höhen klettern will, um sich die HellermannTyton-Produkte im Einsatz anzusehen, der kann das einfach und sicher mit einer VR-Anwendung tun.

Virtual Reality (VR) kommt bereits in zahlreichen Unternehmen zum Einsatz

Das Unternehmen hatte bereits vor rund vier Jahren interaktive VR-Anwendungen programmieren lassen, um seine Produkte und Lösungen für Kunden erlebbar zu machen. Eine weitere VR-Entwicklung für die hausinterne Aus- und Weiterbildung wurde kürzlich gemeinsam mit dem Hamburger Bildungsnetzwerk DigiNet.Air realisiert. Es geht darum, Spritzgussmaschinen mit verschiedenen Formen zu bestücken.

Auch in der Ausbildung wird VR immer wichtiger

„Der damit verbundene Rüstvorgang ist zeitlich recht aufwendig“, sagt Jan Stelter, Ausbildungskoordinator bei Hellermann-Tyton. Da die Stillstandzeiten der Maschinen möglichst kurz gehalten werden müssen, wurden bisher keine Rüstvorgänge exklusiv für Ausbildungszwecke durchgeführt. Stelter: „Das werden wir bald mit VR verändern.“ So sollen demnächst Verfahrensmechaniker-Azubis mit dem neuen Tool die Prozessschritte verinnerlichen.

Aus ähnlichen Gründen setzt der Spezialmaschinenbauer Fette Compacting auf VR. Das Unternehmen ist Weltmarktführer beim Bau von Tablettenpressen – rein rechnerisch wurde jede zweite Tablette, die weltweit verkauft wird, auf Anlagen der Firma produziert.

Gemeinsame Lösung mit dem Kunden entwickelt

Die hochkomplexen Anlagen werden am Standort Schwarzenbek gefertigt. Damit sie möglichst fehlerfrei produzieren können, kommt es auf den Menschen an, denn „eine Maschine ist nur so gut wie die Person, die sie bedient“, sagt Britta von Selchow, Head of Digital Product Innovation bei Fette Compacting. „Rund die Hälfte aller Fehler in der Pharmaproduktion entstehen durch nicht ausreichend geschultes Personal.“ Trainings seien daher essenziell für eine effiziente und sichere Produktion.

„Wir haben gemeinsam mit einem Kunden ein VR-Tool entwickelt, das am Beispiel eines virtuellen Isolators die Reinigungs- und Rüstprozesse einer Produktion darstellt“, erklärt Tim Klingenhof, Leiter der Trainings- und Schulungsabteilung. „Damit können die Mitarbeiter unserer Kunden risikofrei und unbegrenzt wiederholbar Prozessabläufe trainieren und Handgriffe üben.“

Gaming-Bestandteile helfen beim Training

Rund ein Dreivierteljahr Entwicklungszeit steckt in der Trainingslösung, bei der ein Gaming-Notebook, eine VR-Brille und zwei Controller zum Einsatz kommen. Klingenhof: „Der Mitarbeiter schlüpft in virtuelle Handschuheingriffe und übt anhand einer interaktiven Checkliste den Reinigungsprozess.“

Damit der Prozess so realitätsnah wie möglich abgebildet wird, haben die Entwickler sogar echte Geräusche jeder Tätigkeit in das Programm übertragen. Auch Gaming-Bestandteile helfen beim Training. So erhalten Beschäftigte für das Beseitigen von Produktrückständen Punkte und können sich ständig verbessern. Zudem können sie in der virtuellen Welt eine Prüfung ablegen und am Ende ein Zertifikat erhalten.

Ein langjähriger Mitarbeiter wurde zum Avatar für seine Kollegen

Aber nicht nur Checklisten und leuchtende Tabletten führen durch den virtuellen Prozess, auch der Avatar „Helmut“ hilft bei der Einarbeitung. Sein reales Vorbild ist Helmut Bommrowitz, ehemaliger Leiter des Kundenzentrums und langjähriger Mitarbeiter von Fette Compacting.

Er bot sich für diese Rolle geradezu an, denn nach rund 50 Jahren im Unternehmen ist er mit der Materie bestens vertraut. Bommrowitz: „Ich habe während meines Berufslebens unzählige Fragen zu Tablettenpressen beantwortet. Da war es für mich klar, auch als Avatar-Vorbild zur Verfügung zu stehen.“

TKMS setzt AR-Anwendungen beim Bau von U-Booten ein

Tim Klingenhof sieht die Vorteile der VR-Anwendung, weiß aber zugleich auch, dass solchen Tools Grenzen gesetzt sind: „Zum einen sind die Kosten für Entwicklung und Programmierung sehr hoch, zum anderen eignen sich wahrscheinlich nicht alle Prozesse für die Umsetzung in VR.“ So sei es schwer vorstellbar, dass man Tätigkeiten, für die man eine hohe Fingerfertigkeit benötigt, virtuell umsetzt.

Allerdings wird in den Unternehmen und Universitäten bereits mit Hochdruck an neuen Einsatzmöglichkeiten gearbeitet. Vor allem „Augmented Reality“ (AR) fasziniert die Techniker. Zu den Betrieben, die bereits mit dieser Technik arbeiten, gehört die Kieler Werft Thyssenkrupp Marine Systems (TKMS), die AR-Brillen unter anderem beim Bau von U-Booten einsetzt.

Lothar Steckel
Autor

Als Geschäftsführer einer Bremer Kommunikationsagentur weiß Lothar Steckel, was Nordlichter bewegt. So berichtet er für aktiv seit mehr als drei Jahrzehnten vor allem über die Metall- und Elektro-Industrie, Logistik- und Hafenwirtschaft, aber auch über Kultur- und Freizeitthemen in den fünf norddeutschen Bundesländern.

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