Bremerhaven. Überfüllte Bahnhöfe, genervte Pendler: Am Morgen des 8. Oktober 2022 ging über Stunden nichts mehr auf den meisten Schienen im Norden Deutschlands. Der Grund waren keine Streiks, sondern zwei gezielte Axthiebe. Unbekannte Täter hatten in Herne und Berlin Kabelschächte geöffnet und dort Leitungen durchtrennt. Daraufhin fiel in Teilen Norddeutschlands das Funknetz aus, über das Zugführer normalerweise mit Fahrdienstleitern kommunizieren.

Kabel, Gleise, Pipelines: Hunderttausende Kilometer Leitungen und Transportwege durchziehen Deutschland wie die Adern des Blutkreislaufs. Über sie strömen Waren, Energie, Informationen. Wirtschaft und Gesellschaft hängen von ihnen ab. Zehn Bereiche dieser kritischen Infrastrukturen hat die Bundesregierung kürzlich definiert – im Entwurf des neuen Kritis-Dachgesetzes. Dazu gehören die Schienen-, Strom- und Gasnetze, aber auch Kläranlagen, Kraftwerke und Krankenhäuser. Im Fokus steht auch die maritime Infrastruktur – also Häfen, Off-Shore-Windkraftanlagen oder Untersee-Glasfaserkabel. Letztere sind unverzichtbar für unsere moderene Kommunikation: Experten schätzen, dass bis zu 95 Prozent des Internetverkehrs über sie laufen.

Auch Cyber-Security braucht eine sichere physische Infrastruktur

Wie sicher sind solche Systeme? Anruf bei Frank Sill Torres. Er leitet das Institut für den Schutz maritimer Infrastruktur am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Bremerhaven. Und gibt in puncto Untersee-Glasfaserkabel Entwarnung: „Dass jemand diese Kabel mutwillig kappt, ist unwahrscheinlich. Denn die Informationen, die dort fließen, sind etwa für Geheimdienste viel interessanter als die Kabel an sich.“ Es kommt vor, dass Kabel durch Seebeben oder Schleppnetze beschädigt werden. Dann sind aber noch genügend andere Kabel da. Störstellen ließen sich außerdem meist recht schnell finden und dann auch reparieren, sagt Sill Torres.

Allerdings: Eine zerstörte Gaspipeline oder ein umgestürztes Windrad wären schon aufwendiger zu reparieren. Deshalb sei es wichtig, im Ernstfall schnell reagieren zu können, so der Experte: „Diese Fähigkeit ist eine der Säulen für die Sicherheit unserer Infrastruktur – neben guten Schutzkonzepten.“ Die Basis für ein solches Konzept hat das DLR-Institut gerade im Projekt Marlin (kurz für: Maritime Awareness Realtime Instrumentation Network) entwickelt.

Herzstück ist eine Lagebild-Beobachtung in Echtzeit: Dafür werden Daten aus verschiedenen Überwachungs-Systemen geschützt zusammengeführt. „Wir haben Marlin schon erfolgreich getestet. Im nächsten Schritt wollen wir es mit Behörden und Betreibern weiterentwickeln“, sagt Sill Torres.

„Bei Atomkraftwerken und Flughäfen haben wir den strengsten Schutz der Welt.“

Norbert Gebbeken, Forschungszentrum Risk

Aber nicht nur der Betrieb von Anlagen und Netzen muss überwacht werden. Schon beim Bau sollte der Schutz mitgedacht werden. Das fordert Norbert Gebbeken von der Bundeswehr-Uni in München. Der Professor berät als Leiter des Forschungszentrums Risk Ministerien oder Flughafenbetreiber. „Auf den baulichen Schutz kommt es in allen Bereichen an, sogar bei der Cyber-Sicherheit“, sagt er.

Schließlich bleiben ohne geschützte Sendemasten und Rechenzentren auch Daten nicht sicher. Im Entwurf zum Dachgesetz werde der physische Schutz zwar angesprochen, aber für den Bau nicht konkretisiert, kritisiert der Experte: „Wir brauchen hier dringend einheitliche Vorgaben!“ So wie es sie bei anderen Immobilien schon gibt: „Bei Flughäfen und Atomkraftwerken zum Beispiel haben wir in Deutschland die strengsten Schutzkonzepte der Welt.“

Ersatzsysteme sollen den Zusammenbruch verhindern

Und was ist mit unseren Stromnetzen? Bei einem längeren Blackout könnte auch die sicherste Architektur keine Schäden verhindern. Video-Anruf bei Daniel Lichte. Er ist Abteilungsleiter im 2019 gegründeten DLR-Institut für den Schutz der terrestrischen Infrastrukturen in Sankt Augustin. Sein Team untersucht im Auftrag von Stromnetzbetreibern, wie sich Leitungen besser gegen Störungen wappnen lassen. „Lange Zeit war dieses Thema in der Öffentlichkeit kaum präsent“, sagt Lichte. Seit einigen Jahren werde dagegen vermehrt in Forschung investiert.

Zum Beispiel arbeitet das DLR-Institut an digitalen Zwillingen: computergestützte, mit aktuellen Informationen gespeiste Modelle von Infrastrukturen, an denen sich mögliche Katastrophenszenarien durchspielen lassen. „Im Ernstfall hätte man dann einen Zeitvorteil, weil man weiß, wie man am besten reagieren sollte“, sagt Lichte. Ein anderes Projekt ist im Januar 2023 gestartet: Es geht darum, wie sich küstennahe Gebiete besser gegen Extremwetterereignisse wie Sturmfluten schützen lassen. „Wir können nicht alle Ereignisse verhindern“, sagt Lichte. „Aber wir können uns besser vorbereiten.“

Auch bei der Deutschen Bahn arbeitet man an resilienteren, also widerstandfähigeren Systemen. „Wir sind dabei, zusätzliche Ersatzstrukturen aufzubauen“, bestätigt eine Sprecherin. Etwa beim Funknetz, das im Oktober teilweise zusammengebrochen war. Ein Stillstand wegen zweier durchtrennter Kabel wäre in Zukunft wohl so einfach nicht mehr möglich.

Was ist die kritische Infrastruktur?

Die Bundesregierung nennt zehn Bereiche, die laut dem neuen Kritis-­Dachgesetz besonders geschützt werden sollen:

  • Energie: Bundesweit gibt es 306 Kraftwerke, die mehr als 100 Megawatt elektrische Leistung produzieren. Das gesamte Stromnetz ist 1,8 Millionen, das Gasnetz 511.000 Kilometer lang.
  • Wasser: 5.468 Unternehmen versorgen die Bevölkerung mit Trinkwasser. Es gibt knapp 10.000 Kläranlagen und 540.723 Kilometer öffentliche Kanalisation.
  • Ernährung: Über 14.300 Großhandelsfirmen kümmern sich um die Versorgung mit Nahrung und Getränken.
  • IT und Kommunikation: In Frankfurt befindet sich der wichtigste Internet-Knotenpunkt der Nordhalbkugel. In Deutschland waren 2021 Glasfaser- und Koaxialkabel für 29,3 Millionen Breitband­anschlüsse verlegt.
  • Transport: Das Schienennetz ist 38.400 Kilometer lang und verfügt über 5.700 Bahnhöfe. Hinzu kommen 38 Verkehrsflughäfen und 13.200 Kilometer Autobahn.
  • Gesundheit: In Deutschland gibt es 1.903 Krankenhäuser.
  • Finanz- und Versicherungswesen: Zu schützen sind hier mehr als 23.200 Bankstellen.
  • Abfallentsorgung: Es gibt 1.005 Deponien und 66 Müllverbrennungsanlagen.
  • Kultur und Medien: Verlage und Theater gehören ebenso dazu wie der Sport, etwa das Fußballstadion in Dortmund für 81.365 Zuschauer.
  • Staat und Verwaltung: Derzeit gibt es 16 Bundesministerien. Jedes der 16 Bundesländer hat seine eigenen Ministerien. Insgesamt gibt es bundesweit 186.000 öffentliche Gebäude.

Unternehmen, die in diesen Bereichen arbeiten, müssen etwa Kontaktstellen für das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik benennen, ihre IT-Sicherheit ständig aktualisieren sowie Hacker-Angriffe an die Behörde melden.

Michael Aust
aktiv-Redakteur

Michael Aust berichtet bei aktiv als Reporter aus Betrieben und schreibt über Wirtschafts- und Verbraucherthemen. Nach seinem Germanistikstudium absolvierte er die Deutsche Journalistenschule, bevor er als Redakteur für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ und Mitarbeiter-Magazine diverser Unternehmen arbeitete. Privat spielt er Piano in einer Jazz-Band. 

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Anja van Marwick-Ebner
aktiv-Redakteurin

Anja van Marwick-Ebner ist die aktiv-Expertin für die deutsche Textil- und Bekleidungsindustrie. Sie berichtet vor allem aus deren Betrieben sowie über Wirtschafts- und Verbraucherthemen. Nach der Ausbildung zur Steuerfachgehilfin studierte sie VWL und volontierte unter anderem bei der „Deutschen Handwerks Zeitung“. Den Weg von ihrem Wohnort Leverkusen zur aktiv-Redaktion in Köln reitet sie am liebsten auf ihrem Steckenpferd: einem E-Bike.

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