Nürnberg. Corona, Lieferengpässe, Russlands Überfall auf die Ukraine: Der Arbeitsmarkt hielt bislang allen Krisen stand. Zuletzt gab es sogar mehr Erwerbstätige als vor der Pandemie – nämlich 45,1 Millionen im ersten Quartal 2022. Gleichzeitig gab es 1,74 Millionen offene Stellen, ein neuer Rekordwert.

Abgeschlossene Berufsausbildung ist Trumpf

Fachkräfte und Berufsstarter sind gefragt – etwa im IT-Bereich, in der Metall- und Elektro-Industrie, der Chemie, in der Pflege und im Handwerk. Besonders gilt das für Arbeitnehmer mit abgeschlossener Berufsausbildung. Sie werden von der Hälfte aller Firmen gesucht, zeigt eine Unternehmensumfrage der Bertelsmann-Stiftung. Von einem Akademiker-Mangel berichtet „nur“ ein Viertel der Unternehmen.

In Zukunft dürfte die Fachkräfte-Klemme noch zunehmen – weil die meisten Belegschaften altern: Im Schnitt ist heute bereits fast jeder vierte Mitarbeiter über 55 Jahre alt. Daher werden in den nächsten zehn Jahren voraussichtlich 7,3 Millionen Menschen aus dem Arbeitsleben ausscheiden.

Und die bewährten Experten werden längst nicht alle ersetzt werden können. Denn unsere Bevölkerung schrumpft. Derzeit kommen noch etwa halb so viele Kinder zur Welt wie im geburtenstärksten Jahrgang 1964.

Seit Jahren weniger Ausbildungsbewerber

„Um jetzt die Personaldecke zu stärken, wäre es eigentlich der Königsweg, die betriebliche Ausbildung auszubauen“, sagt Dirk Werner, Berufsbildungsexperte im Institut der deutschen Wirtschaft. „Fakt ist jedoch, dass die Zahl der Ausbildungsbewerber bereits seit über fünf Jahren sinkt.“

Zwar wurden zum aktuellen Ausbildungsjahr 2021/2022 bundesweit rund 467.100 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen, etwas mehr als im schwachen Vorjahr. Gleichwohl waren zu Beginn des laufenden Lehrjahrs geschlagene 40 Prozent aller Ausbildungsplätze unbesetzt – auch das ist ein neuer Spitzenwert. Das meldete das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).

Betriebe tun viel, um Mitarbeiter zu halten und zu gewinnen

Um Fachkräfte zu gewinnen und zu halten, weiten die Betriebe ihre Personalarbeit aus: Sie werben auch in technischen Berufen gezielt um weibliche Azubis, bieten vielfältige Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf an, verstärken Weiterbildung und Personalentwicklung. Trotzdem wird die Zahl der Fachkräfte nur unter zwei Hauptbedingungen halbwegs stabil bleiben:

  • Viel mehr über 60-Jährige müssten länger arbeiten, bevor sie in Rente gehen. Kein Wunder, dass die Diskussion um die Rente mit 70 zuletzt wieder hochkochte. Renten-Experte Bernd Raffelhüschen von der Uni Freiburg fordert: „Der Renteneintritt muss an die steigende Lebenserwartung gekoppelt werden.“
  • Deutschland müsste mehr Fachkräfte aus dem Ausland gewinnen. Doch zuletzt machte Corona einen Strich durch die Rechnung. Zudem schreckt viele Betriebe der hohe bürokratische Aufwand ab. Denn der ist enorm bei der erstmaligen Anwerbung von Arbeitnehmern aus dem Ausland.

Bleibt die Gretchenfrage: Wird sich die aktuell robuste Job-Entwicklung weiter fortsetzen? IAB-Direktor Bernd Fitzenberger ist da eher vorsichtig: „Es besteht das Risiko eines starken Einbruchs am Arbeitsmarkt, sollte der Krieg in der Ukraine weiter eskalieren und es zu einem Stopp der Energielieferungen aus Russland kommen.“ Da sind Fachkräfteengpässe doch die deutlich bessere Alternative im Hinblick auf den Wohlstand in Deutschland.

Stephan Hochrebe
aktiv-Redakteur

Nach seiner Redakteursausbildung absolvierte Stephan Hochrebe das BWL-Studium an der Universität zu Köln. Zu aktiv kam er nach Stationen bei der Funke-Mediengruppe im Ruhrgebiet und Rundfunkstationen im Rheinland. Seine Themenschwerpunkte sind Industrie und Standort – und gern auch alles andere, was unser Land am Laufen hält. Davon, wie es aussieht, überzeugt er sich gern vor Ort – nicht zuletzt bei seiner Leidenschaft: dem Wandern.

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