Nürnberg/Köln. Die Experten sind sich einig. Und sie warnen. Nicht zum ersten Mal – das Problem ist nicht neu. Aber es ist ungelöst, und die Zeit drängt immer mehr! „Deutschland steht in den kommenden Jahren ein folgenreicher demografischer Wandel bevor“, heißt es in der Gemeinschaftsdiagnose führender deutscher Wirtschaftsforschungsinstitute. „Bis 2030 muss mit einer Verringerung der Potenzialwachstumsrate um rund 1 Prozentpunkt gerechnet werden.“

1964 gab es in Deutschland 1,36 Millionen Geburten, 2020 waren es nur 770.000.

Okay, diesen Fachjargon muss man jetzt erst mal übersetzen. Zugespitzt: weniger Junge im Lande, mehr Ältere, also schwächeres Wachstum, weniger zu verteilen.

Klingt nicht so gut. Und es wird unsere Gesellschaft schon bald vor große Herausforderungen stellen, etwa beim Thema Rente. Allerdings haben selbst diese schlechten Aussichten auch eine gute Seite. Denn Menschen, die zukünftig in Deutschland arbeiten wollen, können sich ziemlich sicher sein: Jeder von ihnen wird gebraucht!

Für die Betriebe dagegen wird es zunehmend schwerer werden, Stellen zu besetzen – schlicht, weil immer weniger Menschen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Hauptgrund: Ungefähr zwischen 2025 und 2035 scheidet die extrem geburtenstarke Generation der sogenannten Babyboomer aus dem Erwerbsleben aus, längst nicht so viele Schulabgänger rücken nach. So wurden etwa 1964, im geburtenstärksten Jahr der Babyboomer-Generation, in Deutschland 1,36 Millionen Kinder geboren. In den vergangenen zwei Jahrzehnten lag die Zahl der jährlichen Geburten hingegen nur bei rund 700.000. Trotz zuletzt leicht ansteigender Zahlen gab es auch 2020 nur 770.000 Geburten.

Frauen und Ältere können nur einen Teil der Lücke füllen

Wie groß das Problem tatsächlich ist, wie wuchtig Deutschland sich ändert, das zeigen Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Sie prognostizieren das Erwerbspersonenpotenzial bis 2035. Diese wichtige Kennzahl umfasst alle Menschen, die erwerbstätig, erwerbslos oder Teil der „stillen Reserve“ sind (Letztere sind grundsätzlich bereit zu arbeiten, aber nicht offiziell als arbeitslos registriert).

Gute Aussichten, nicht nur für junge Leute: Vor Arbeitslosigkeit müssen die Bundesbürger bald kaum noch Angst haben, Erwerbspersonen werden hierzulande knapp. Die starke Zuwanderung des vergangenen Jahrzehnts aus anderen EU-Staaten sowie durch Geflüchtete hat das Problem etwas entschärft, aber längst nicht gelöst.

Schreibt man die heutigen Verhältnisse einfach in die Zukunft fort, ergibt sich laut IAB ein dramatisches Bild: Das Erwerbspersonenpotenzial bricht bis 2035 um mehr als sieben Millionen (!) Menschen ein. Der demografische Wandel schlägt voll durch. Selbst ein starker Anstieg der Geburtenzahlen – nach dem es derzeit eher nicht aussieht – könnte daran nichts mehr ändern: Kinder, die erst noch geboren werden, stehen 2035 noch nicht im Erwerbsleben.

Zu diesem Horror-Szenario muss es jedoch nicht kommen. Das liegt an zwei Jokern, die Deutschland ausspielen kann und um die die nächste Bundesregierung sich schnell kümmern sollte.

Da ist zum einen die Frage der Erwerbsbeteiligung. Vieles deutet darauf hin, dass in den kommenden Jahren noch mehr Frauen arbeiten werden und zudem Ältere länger im Erwerbsleben bleiben dürften. Unter dieser Annahme sinkt das Erwerbspersonenpotenzial bis 2035 nicht mehr ganz so stark, sondern „nur“ um etwa fünf Millionen Menschen.

Die Rente mit 70 würde sicher helfen, ist aber politisch noch äußerst umstritten

Warum nicht noch mehr drin ist, begründen die IAB-Forscher so: Aktuell sind zum Beispiel schon rund 90 Prozent aller Frauen zwischen 40 und 49 Jahren am Arbeitsmarkt aktiv – da ist also nicht mehr viel Luft nach oben. Und eine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 70 Jahre hätte zwar einen „großen Effekt“ – ist aber politisch umstritten und daher nur langfristig denkbar.

Der zweite Joker: mehr Zuwanderung. In der hier als Grafik gezeigten dramatischen Variante liegt die Netto-Einwanderung bei null, aber es kann ja besser kommen. Die IAB-Experten halten eine jährliche Nettozuwanderung von 200.000 Menschen für realistisch. Dann würde – beide Joker schon zusammengerechnet! – das Erwerbspersonenpotenzial bis 2035 um bloß 2,5 Millionen Kräfte sinken.

Bei Schätzungen zur Zuwanderung mahnen Fachleute allerdings zur Vorsicht. „Solche Prognosen sind immer extrem unsicher“, erklärt Wido Geis-Thöne, Experte für Migrationsfragen am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Er hat eine Studie erstellt, in der er nicht das gesamte Erwerbspersonenpotenzial, sondern speziell das Fachkräfte-Angebot prognostiziert. In seinem Basisszenario rechnet Geis-Thöne sogar mit einer Netto-Zuwanderung von etwas mehr als 200.000 Menschen im Jahr. Selbst dann sinkt die Zahl der Fachkräfte von aktuell rund 35,5 Millionen bis 2040 um gut drei Millionen Köpfe.

Und Zuwanderung von qualifizierten Menschen sei für Deutschland ja alles andere als ein Selbstläufer, warnt der IW-Ökonom. Das starke Plus der vergangenen Jahre sei neben den Flüchtlingen vor allem dem Zuzug aus Osteuropa zu verdanken – etwa aus Polen, Kroatien, Rumänien und Bulgarien. „Das war allerdings ein Einmaleffekt nach der EU-Osterweiterung“, erklärt Geis-Thöne. „Die Länder Osteuropas haben genauso wie wir mit dem demografischen Wandel zu kämpfen. Das Zuwanderungspotenzial von dort ist ausgeschöpft.“

Wir brauchen mehr Menschen, die anpacken können

Echtes Potenzial für Betriebe sieht Geis-Thöne „nur noch außerhalb Europas – und selbst das eigentlich nur bei Akademikern“. Denn eine berufliche Bildung wie bei uns gebe es anderswo auf der Welt kaum, dazu komme die schwere deutsche Sprache: „Das macht Zuwanderung in der Gruppe der beruflich Qualifizierten besonders schwierig.“

Für ihn und andere Experten ist völlig klar: Auf Deutschland kommen herausfordernde Zeiten zu. Und um die zu bewältigen, brauchen wir mehr Frauen im Job, mehr Ältere im Job und mehr Zuwanderer. Einfach jeden, der anpacken kann.

„Schon 2030 fehlen bis zu drei Millionen Fachkräfte“

Experte Philipp Kolo: Er sieht große Herausforderungen auf Politik, Wirtschaft und Arbeitnehmer zukommen.
Experte Philipp Kolo: Er sieht große Herausforderungen auf Politik, Wirtschaft und Arbeitnehmer zukommen. Bild: BCG/Peter Nitsch

München. Demografischer Wandel einerseits, technologischer Fortschritt andererseits: Die Studie „Future of Jobs in the Era of AI“ prognostiziert schwierige Zeiten für den deutschen Arbeitsmarkt. Im Interview mit aktiv spricht Philipp Kolo, Co-Autor der Studie und Partner bei der Boston Consulting Group, über die Umwälzungen der kommenden Jahre – über eine Herausforderung, auf die Politik, Wirtschaft und Arbeitnehmer sich jetzt vorbereiten müssen.

In Deutschland geht die Babyboomer- Generation bald in Rente. Welche Folgen hat das für den Arbeitsmarkt?

Wir sehen zwei Trends, die einen großen Einfluss auf die Entwicklung haben: einerseits die zunehmende Automatisierung und andererseits der demografische Wandel. Die geburtenstarken Jahrgänge werden in den nächsten Jahren vom Markt verschwinden – das führt zu einer konstant sinkenden Anzahl an verfügbaren Arbeitskräften. Absolventen und Migration gleichen die Renteneintritte der Babyboomer nicht aus: Wir rechnen in unserem Basisszenario mit einer Lücke von 1,4 Millionen Arbeitskräften, die Lücke könnte aber sogar noch größer werden.

Hilft uns nicht der technologische Wandel dabei, diesen Fachkräftemangel etwas zu mildern?

Der technologische Wandel reduziert in manchen Bereichen in der Tat die Zahl der benötigten Arbeitskräfte. Gleichzeitig werden aber in bestimmten Bereichen sogar mehr Fachkräfte gebraucht als heute! Das ist auch bedingt durch den technologischen Fortschritt in vielen Branchen.

Um welche Größenordnungen geht es also unter dem Strich?

Wie erwähnt, werden nach unseren Berechnungen schon 2030 etwa 1,4 Millionen Arbeitskräfte fehlen. Doch das ist nicht das ganze Problem, das ist eben nur die Differenz aus Überhang und Unterdeckung. Insgesamt werden in Deutschland sogar bis zu 3 Millionen Fachkräfte fehlen – dem stehen aber 1,6 Millionen Jobs entgegen, die in dieser Form nicht mehr benötigt werden.

Für welche Tätigkeiten gilt das denn besonders? Und wo fehlen uns die Leute?

Es wird eine starke Veränderung der Arbeitslandschaft durch neue Technologien geben, die den Bedarf an Jobs mit hohem Anteil an Routinetätigkeiten stark reduzieren, zum Beispiel in der Produktion. Aber auch bei manchen Bürojobs. Andere Berufe werden hingegen stärker nachgefragt werden, vor allem solche, die neue Technologien implementieren wie etwa Software-Entwickler. Aber auch jene Tätigkeiten, die einen hohen persönlichen Austausch erfordern, steuern auf eine Unterdeckung zu – etwa im Gesundheits- und Bildungswesen. Und das kann der technologische Wandel kaum ausgleichen.

Was sollte vor diesem Hintergrund politisch getan werden?

Zunächst einmal muss man sich überlegen: Wer sollte etwas tun? Denn das Thema betrifft ja Regierungen, Unternehmen und auch Einzelpersonen. Eine gesamtwirtschaftliche Arbeitskräfteplanung, dazu strategische Personalplanungen der Betriebe und lebenslanges Lernen des Einzelnen, also auch die Bereitschaft zu Umschulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen, sind da zum Beispiel sinnvolle Ansätze.

Michael Stark
aktiv-Redakteur

Michael Stark schreibt aus der Münchner aktiv-Redaktion vor allem über Betriebe und Themen der bayerischen Metall- und Elektro-Industrie. Darüber hinaus beschäftigt sich der Volkswirt immer wieder mit wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen. Das journalistische Handwerk lernte der gebürtige Hesse als Volontär bei der Mediengruppe Münchner Merkur/tz. An Wochenenden trifft man den Wahl-Landshuter regelmäßig im Eisstadion.

Alle Beiträge des Autors