Stuttgart. Feierabend: Es dämmert schon, als Martina S. Schulranzen und Rucksack ihrer Kinder aus dem Kofferraum hievt. Sie ist alleinerziehend mit zwei Töchtern (drei und neun Jahre alt), arbeitet Vollzeit als pflegerische Bereichsleiterin in einem Krankenhaus, wo sie für rund 60 Mitarbeiter verantwortlich ist. Während andere Eltern ihre Kinder schon zum Ballett gefahren oder fürs Diktat vorbereitet haben, hat sie noch Schichtpläne erstellt und Patienten gepflegt. „Abends sitzen wir dann manchmal noch bis gegen 20 Uhr beim Lernen für die Schule“, schildert die Frau aus Untergruppenbach im Gespräch mit aktiv. „Aber oft bin ich auch einfach zu kaputt dafür.“
Was sich erst mal nach einem privaten Problem anhört, ist tatsächlich ein Problem unserer Gesellschaft: Die Bildungschancen hängen noch immer stärker vom Elternhaus ab als in den meisten anderen Industriestaaten.
19 Prozent aller Familien mit minderjährigen Kindern haben einen alleinerziehenden Elternteil. Quelle: Statistisches Bundesamt
Das belegen etwa die Pisa-Studien, die die Schulleistung von Kindern und Jugendlichen weltweit vergleichen. Alleinerziehend? Einkommensschwach? Migrationshintergrund? Stets ist dann die Wahrscheinlichkeit höher, dass es in der Schule nicht so rund läuft wie bei anderen Familien. Und Corona verstärkt diese Ungleichheit noch.

Videokonferenz? Für Schüler in Flüchtlingsunterkünften häufig nicht möglich
Darüber weiß auch Murat Dirican einiges zu berichten. Als Sohn türkischer Einwanderer in Deutschland geboren, arbeitete er sich auf Umwegen bis zum Hochschulabschluss hoch. aktiv ruft ihn in einer Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge in Stuttgart an. Dirican ist dort verantwortlich für den neuen „Lernraum in Gemeinschaftsunterkünften“, den die Landeshauptstadt finanziert und in Zusammenarbeit mit dem Flüchtlings- und Migrationsverein „Arbeitsgemeinschaft für die Eine Welt“ eingerichtet hat. Er sagt: „Ich will dazu beitragen, dass Kinder mit Migrationshintergrund sich nicht ausgegrenzt fühlen – auch wenn sie einen internationalen Namen haben oder sich äußerlich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden."

Gerade nehmen in dem Lernraum zwei Schüler an einer Videokonferenz mit dem Lehrer und Mitschülern teil. „Das war für diese Kinder bis vor Kurzem meistens nicht möglich“, schildert der Sozialarbeiter, der als Lernraum-Koordinator für den Verein arbeitet. In der Unterkunft gebe es kein WLAN, die wenigsten Eltern hätten Computer oder Tablets – „und in einem Mehrbettzimmer, wo vielleicht noch ein Fernseher läuft oder gerade jemand isst, kann man sich als Kind natürlich schlecht konzentrieren“, so Dirican. Daher will die Stadt nun weitere solcher Lernräume in anderen Unterkünften einrichten, ehrenamtliche Helfer werden sich bei der Betreuung der Schüler abwechseln.
Homeschooling? Für alleinerziehende Eltern eine ganz besondere Herausforderung
Und Dirican hat noch viel vor: „Wir wollen zum Beispiel Computerkurse einführen, zusammen mit der Firma Bosch.“ Solche Förderangebote hätten durch Corona ja eine ganz neue Dringlichkeit bekommen, betont er. „Viele Eltern mit Fluchthintergrund haben im Falle von Schulschließungen selbst einfach gar nicht die Ressourcen, um ihren Kindern beim Lernen in der neuen Sprache helfen zu können.“
Auch Mutter Martina S. mit ihrem systemrelevanten Vollzeitjob könnte gründliches Homeschooling schlicht nicht leisten (auch wenn sie Deutsche ist und einen guten Bildungsstatus hat). „Für uns Alleinerziehende hat Corona die Situation noch massiv verschlechtert“, beschreibt sie.
Schulen und Betreuungseinrichtungen können individuelle Förderung oft nicht bieten
Im Krankenhaus musste sie etwa während des ersten Lockdowns im Frühjahr Hygienekonzepte erarbeiten, Personalausfälle kompensieren und immer wieder auch Zusatzstunden leisten – „da war für Homeschooling erst recht keine Zeit“. Wobei sie sich viel Mühe gibt, der großen Tochter so gut es geht zu helfen: Die geht in die vierte Klasse, der Übergang auf eine gute weiterführende Schule soll gelingen. „Ich habe trotzdem permanent ein schlechtes Gewissen", sagt die zweifache Mutter. „Im Job setze ich alles in Bewegung, um hilfsbedürftigen Leuten zur Verfügung zu stehen – aber für meine eigenen Kinder habe ich deshalb kaum Zeit."
Corona verschärft also ein Problem, das Bildungsforscher schon länger kritisieren: Die klassischen Betreuungseinrichtungen können eine individuelle Förderung in der Regel nicht so gut leisten, wie es wünschenswert wäre. Wobei für Flüchtlingshelfer Dirican unser Bildungssystem auch viele gute Seiten hat. „Egal, wie ungerecht manches ist oder erscheint“, sagt er, „am Ende ist das deutsche System doch so gut und durchlässig, dass man mit dem niedrigsten Schulabschluss auf Umwegen noch sehr viel werden kann.“ Er selbst hat es ja vorgemacht.