Steinbach am Wald/Kleintettau. Wache Augen, leichtes Lächeln, ein Spruch für die Kollegen – eigentlich ist Knut Ludwig eine Frohnatur. Nur bei einem Thema wird seine Miene derzeit schlagartig düster: Gas! „Wir machen uns alle Sorgen hier“, sagt Ludwig, technischer Betriebsleiter bei Wiegand-Glas in Steinbach am Wald. Über drei Millionen Glasbehälter produzieren Ludwig und seine 2.000 Kollegen täglich, jede vierte in Deutschland verkaufte Getränkeflasche stammt von hier. Noch. Denn wenn dem Unternehmen tatsächlich der Gashahn abgedreht wird, droht im schlimmsten Fall eine Katastrophe. Für das Werk, für die Jobs. Und die ganze Region.

8.000 Jobs stehen im schlimmsten Fall im Feuer

Der Rennsteig. Hier treffen sich Thüringer und Frankenwald. Eine verwunschene Region, viel Landschaft, der alte Napoleon soll die Gegend verächtlich Klein-Sibirien geschmäht haben. Und doch sitzt hier seit Jahrhunderten eine lange vom Erfolg geküsste Branche: die Glas-Industrie. Wiegand-Glas, Gerresheimer, Heinz-Glas, Röser – außerhalb von Region und Branche mag das kaum einem was sagen. Doch die Unternehmen sind Weltmarktführer, Hidden Champions, mit eindrucksvollen Marktanteilen, übervollen Auftragsbüchern. Und einem großen Problem: Versiegt der Gasstrom, könnten die Standorte mit insgesamt 8.000 Arbeitsplätzen plötzlich auf der Kippe stehen.

Im Wiegand-Werk in Steinbach am Wald sitzt Firmeninhaber Nikolaus Wiegand an einem wuchtigen Konferenztisch. Wiegand sieht müde aus, die letzten Monate haben Spuren hinterlassen. „Zu Jahresbeginn haben wir dafür gekämpft, dass man uns mal zuhört, was explodierende Gaspreise anbelangt“, sagt er. „Aber jetzt geht es sogar darum, was passiert, wenn es plötzlich eine Gasmangellage gibt.“

Erkaltet das Glas, droht Millionenverlust

Denn eins ist klar: Ohne Gas gibt es kein Glas. Kaum eine Industrieproduktion ist energieintensiver als die Glaserzeugung. Bei Temperaturen von bis zu 1.600 Grad werden Rohstoffe wie Quarzsand, Soda und Kalk in riesigen Wannen verschmolzen. Vier Wannen stehen allein im Wiegand-Werk, jede braucht mal eben 1.000 Kubikmeter Gas – pro Stunde! Kommt unverhofft kein Gas mehr an, würde das geschmolzene Glas in den Wannen erkalten. Die zig Millionen Euro teuren Anlagen wären dann mit einem Mal reif für den Schrott.

Vor der Krise mussten die vier Unternehmen des Rennsteiger Glas-Clusters rund 50 Millionen Euro jährlich für Energie aufbringen. Jetzt kalkuliert man mit dem Fünffachen. „Das ist schlimm“, sagt Nikolaus Wiegand und schaut fast ratlos an die Decke. Eigentlich seien die Auftragsbücher nie voller gewesen, „vom Absatz her war der März der beste Monat, den wie je hatten“. Doch wegen der Energiekosten-Explosion verbrennt das Unternehmen eher Geld als welches zu erwirtschaften.

Übervolle Altglascontainer als Folge des Stillstands

Und wenn nun auch noch nicht mehr genug Gas ankommt? „Wir sind ständig in Schaltungen mit dem Wirtschaftsministerium“, sagt der Inhaber, „und wir schauen, wo wir Gas sparen, was wir abschalten können.“ Nur: „Da ist nicht viel zu machen!“

Auf die überbordenden Gaspreise reagierte Wiegand-Glas zunächst mit dem Aufschieben der Inbetriebnahme einer neuen Wanne. „Vor ein paar Wochen haben wir dann doch angeschürt“, so Wiegand. „Wir müssen liefern, unsere Kunden brauchen Flaschen.“ Natürlich könne man den Gasverbrauch reduzieren, indem man Teile der Produktion runterfährt. „Aber dann können wir erst recht kein Geld mehr verdienen. Wie man so Investitionen stemmen, Zukunftssicherung betreiben soll? Wiegand zuckt mit den Schultern. „Geht nicht.“

Ein paar Kilometer weiter, im 80-Seelen-Dorf Kleintettau, sieht man das ebenso. Hier sitzt Heinz-Glas, Weltmarktführer bei Parfümflakons. Egal ob Boss, Calvin Klein oder Gucci – jeder vierte Flakon, der in den Badezimmern dieser Welt steht, kommt von Heinz-Glas. Aber wie lange noch?

„Die Glasproduktion ist in Deutschland derzeit einfach nicht rentabel“, sagt Murat Agac, Prokurist in der Heinz-Chefetage. „Geht das hier so weiter, wird die Produktion aus Deutschland abwandern.“ In Länder, wo Gas- oder Strompreise staatlich gedeckelt sind und auch Umweltauflagen keine große Rolle spielen. Das wäre eine Katastrophe für die deutschen Standorte, aber auch für den Klimaschutz. Seit 400 Jahren machen sie bei Heinz in Kleintettau jetzt schon Glas. Damit das so bleibt, tritt das Unternehmen die Flucht nach vor an. Binnen eineinhalb Jahren will man die komplette Produktion elektrifizieren. Ein Wagnis, denn noch sei die Technik nicht ausgereift, so Agac.

Gasverbrauch so hoch wie von 85.000 Einfamilienhäusern

Zusammen verbrauchen die vier Glasfirmen am Rennsteig pro Jahr so viel Gas wie 85.000 Einfamilienhäuser und so viel Strom wie eine Stadt mit 400.000 Einwohnern. „Wenn wir nicht auf ein vernünftiges Niveau kommen, werden wir nicht weiter existieren können“, sagt Frank Hammerschmidt, Geschäftsführer der Firma Röser mit Blick auf die Energiekosten.

Nikolaus Wiegand, Firmeninhaber von Wiegand-Glas, geht noch einen Schritt weiter. „Ein Gas-Embargo sollten wir nicht selbstinitiiert testen wollen“, sagt er leise. „Das könnte ganz schlimm schiefgehen.“

Ulrich Halasz
aktiv-Chefreporter

Nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann studierte Uli Halasz an drei Universitäten Geschichte. Ziel: Reporter. Nach Stationen bei diversen Tageszeitungen, Hörfunk und TV ist er jetzt seit zweieinhalb Dekaden für aktiv im Einsatz – und hat dafür mittlerweile rund 30 Länder besucht. Von den USA über Dubai bis China. Mindestens genauso unermüdlich reist er seinem Lieblingsverein Schalke 04 hinterher. 

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