Künzelsau. „Braucht ihr jemanden fürs Controlling?“ – „Klar, geh am besten gleich auf unsere Karriereseite …“ So einfach kann Recruiting gehen. Rainer Grill, Leiter Öffentlichkeitsarbeit beim Ventilatorenhersteller Ziehl-Abegg, hat es tatsächlich so erlebt. Und zwar auf Tiktok. Über diesen Kanal hat die Firma schon Bewerber angezogen und neue Mitarbeiter gewonnen.

Am Anfang stand ein Versuch mit einem Bären-Video

Wie schafft man das? Grill erzählt, wie es dazu kam: „Als ich vor zwei Jahren zum ersten Mal von Tiktok hörte, wurde ich neugierig und probierte es einfach mal aus.“ Im Urlaub in Rumänien filmte er ein paar Bären und lud das Video hoch. Die Überraschung: Es wurde rund 1.000-mal geklickt! Grill war angefixt. Er sprach mit seiner Kollegin Rebecca Amlung aus dem Bereich E-Learning darüber – und siehe da: Sie war schon länger privat auf Tiktok unterwegs. Dann holte er noch seine Tochter Sophie ins Boot, die sich mit Trends auskennt und weiß, was junge Leute anspricht. Sie arbeitet in der Personalentwicklung. Anschließend überzeugte er die Geschäftsleitung, grünes Licht für das Experiment Tiktok-Firmenkanal zu geben. Ohne Budget, aber auch ohne Vorgaben.

Ein User hat sich nach dem Chat auf eine Stelle beworben

Es begann mit Tanz-Clips und Play-backs. Dann gingen sie zu witzigen Büroszenen über – mit durchschlagendem Erfolg. Inzwischen hat der Kanal mehr als 73.000 Follower, die Clips werden millionenfach geklickt und tausendfach gelikt. „Aber diese Zahlen allein sind nicht das Entscheidende“, sagt Grill. „Für uns sind die Kommentare viel wichtiger.“ Die Resonanz ist riesig. Und es kommt vor, dass User konkrete Fragen zum Unternehmen stellen.

Manche User stellen konkrete Fragen zur Firma

Zum Beispiel, wo die Firma ist, was sie produziert – und ob sie Stellen frei hat, etwa für ITler, die sonst so schwer zu finden sind! Deshalb sitzt Grill manchmal noch sehr lange am Handy und chattet mit den Usern. Einer schrieb prompt: „Hab mich beworben, freue mich auf das Vorstellungsgespräch.“

Viele Szenen sind tatsächlich so im Betrieb passiert

Dieser handfeste Erfolg beflügelt. Einmal pro Woche treffen sich die Tiktoker im Betrieb, um über Konzepte zu sprechen und ihre Drehs zu planen, jede Woche gehen fünf Clips online. Inspirationen holen sie sich auf anderen Tiktok-Kanälen oder einfach aus dem Firmenalltag. Der gibt viel her: typische Büronachbarn, klassischer Chefsprech, Flur- und Kaffeeküchensituationen, die jeder irgendwie kennt. Viele Szenen in den Videos sind so oder ähnlich tatsächlich passiert. Das Team setzt sie kurz und knackig um – mit einfachsten Mitteln: Gefilmt wird mit dem Handy, den Schnitt übernimmt Amlung, ebenfalls am Handy.

Kommt gut an: Ein Chef, über den gelacht werden darf

Mitspieler und Mittänzer zu suchen, das ist Amlungs Aufgabe. Sie kennt viele der 2.400 Mitarbeiter in Künzelsau. Fündig wird sie in ihrem Umfeld oder über Mundpropaganda. „Mit einem Kollegen, der schon in vielen Videos dabei war, habe ich eine Fahrgemeinschaft. Von einem anderen wusste ich, dass er gut tanzen kann“, erzählt sie. Sogar die Personalchefin hat sich schon vor die Kamera gestellt. Den Part des Chefs übernimmt in den Clips allerdings Grill selbst – in Anzug und Krawatte. Das kommt gut an bei den Usern, denn über diesen Chef darf gelacht werden.

Zu Hause bastelt das Kernteam oft an seinem Projekt weiter: Per Whatsapp tauschen sie sich über Ideen aus, und Grill beantwortet Tiktok-Kommentare. Warum tun sie sich den ganzen Aufwand freiwillig an? „Es macht einfach Spaß“, sagt Grill strahlend. „Der Kanal ist unser Baby, und wir sind total begeistert, dass er so gut angenommen wird.“

Nachgefragt

Wozu ein Firmenkanal auf Tiktok?

Ursprünglich wollten wir potenzielle Azubis erreichen. Aber Schüler und Schulabgänger können mit Szenen aus dem Betriebsalltag gar nichts anfangen, denn das ist eine Welt, die sie ja noch nicht kennen. Unsere Zielgruppe sind also Berufseinsteiger oder -erfahrene.

Sind Berufserfahrene denn auf Tiktok überhaupt unterwegs?

Durchaus. Die meisten Nutzer sind zwar Jugendliche, aber immerhin 31 Prozent sind älter als 25 Jahre.

Und wie lautet das Erfolgsrezept?

Freie Hand bei der Gestaltung. Das heißt: Keine Vorgaben für Corporate Design, denn das würde auf Tiktok nicht funktionieren. Und es muss jemand machen, der Lust darauf hat.

Ursula Wirtz
aktiv-Redakteurin

Als Mitglied der Stuttgarter aktiv-Redaktion berichtet Ursula Wirtz aus den Metall- und Elektrounternehmen in Baden-Württemberg sowie über Konjunktur- und Ratgeberthemen. Sie studierte Romanistik und Wirtschaftswissenschaften. Später stieg sie bei einem Fachzeitschriftenverlag für Haustechnik und Metall am Bau in den Journalismus ein. Neben dem Wirtschaftswachstum beobachtet sie am liebsten das Pflanzenwachstum in ihrem Garten.

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